Der Begriff Hypertext verdankt seine Karriere zunächst
seiner nicht künstlerischen Bedeutungsvariante:
als Bezeichnung einer spezifischen Technologie der
Informationsverarbeitung, die heute den meisten durch das
Internet, dem größten aller Hypertexte, bekannt
sein dürfte. Kann die Idee dieser Technologie auf
Vannever Bushs berühmten Artikel As we may think
zurückgeführt werden, so stammt der Begriff selbst
von Theodor Holm Nelson, der bereits in den 60er Jahren
damit non-linear text bezeichnete (1967, 195)
und in seinem Buch Literary Machines später
schrieb: by hypertext I mean
non-sequential writing text that branches and
allows choices to the reader, best read at an interactive
screen. As popularly conceived, this is a series of
text chunks connected by links which offer the reader
different pathways. (0/2)
Nelsons Definition ist nur auf den ersten Blick eindeutig. Im
weiteren verwirrt er den Begriff, indem er neben der
Nichtlinearität auch der Nichtdruckbarkeit
Definitionsrelevanz zuspricht: By Hypertext I simply
mean non-sequential writing; a body of written or pictoral
material interconnected in such a complex way that it could
not be presented or represented on paper. Hypertext is the generic term
for any text, which cannot be printed.(1/17)
Nichtlinear angeordnete Texte gibt es allerdings auch in
Papierform dies zeigen Raymond Queneaus Cent mille
milliards de poèmes
,
undruckbare Texte können andererseits durchaus linear
angelegt sein wie etwa alle animierten Texte.
Ungeachtet dieses Widerspruchs hat sich Nelsons Begriff
durchgesetzt und ist schließlich zu einem Dachbegriff
für beinahe jeden Text in den digitalen Medien
geworden.
Gegen
diese sort of imperialistic classification
wendet sich Espen Aarseth in seiner Dissertation
Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature, der
ersten systematisch theoretisierenden Arbeit auf diesem
Gebiet: Hypertext is a useful term when applied
to the structure of links and nodes, but it is much less so
if it includes all other digital text as well. I suggest the term cybertext for texts that involve
calculation in their production of scriptons.(1997,
75) Damit ist Hypertext auf jenen ersten Teil in Nelsons
Begriffsbestimmung reduziert und Cybertext als Dachbegriff
für alle anderweitig auf Berechnung beruhenden
elektronischen bzw. digitalen Texte eingeführt: A
cybertext is a machine for the production of variety of
expression.(3) Die eingeführten Begriffe
texton strings as they exist in the
text und scripton strings
as they appear to readers erklärt Aarseth
am Beispiel von Raymond Queneaus Cent mille milliards de
poèmes, das Hundert Billionen scriptons hat, aber
eben nur 140 textons: die Sonettzeilen, die zur Kombination
verfügbar sind (62). Scriptons sind texton
combinations (63) und bezeichnen den Umstand, dass
digitaler Text der Kombination unterliegt bzw. unterliegen
kann. Dass dies mitunter auch der Fall im Printmedium ist,
zeigt ironischerweise gerade das gewählte Beispiel
Queneau.
Es gibt allerdings eine ganze Reihe weiterer Beispiele für
den Hypertext im Printmedium. So lässt Julio
Cortázars Roman Rayuela von 1963 durch
Hinweise auf alternative Seiten-Anschlüsse
unterschiedliche Lektüregänge durch das Textkorpus
zu und so verweisen die einzelnen Abschnitte in Milorad Pavić
Das Chasarische Wörterbuch (1984) wie in einem
Lexikon auf verschiedene Aschlussstellen im Buch (vgl.
Hayles). Einen Schritt weiter geht Marc Saportas
Kartenspiel-Roman Composition No. 1
(1961), der aus 150 ungebundenen, unpaginierten
Blättern besteht, die lose in einem Schuber lagern und
in willkürlicher Reienfolge gelesen werden können
(vgl. Grimm). Der Lotterieroman deus ex
skatola (1964) von Konrad Balder Schäuffelen
radikalisiert das Verfahren der
Anschlussalternativität, indem er den jeweils
zusammenhängenden Text auf Satzausmaß reduziert
und auf Papierröllchen
Aphorismen und Sentenzen anbietet, die in sich abgeschlossen
sind womit zum einen die Frage der Konsistenz gar
nicht mehr entsteht, weil, zum anderen, kein narrativer
Ansatz mehr vorliegt (Riha 1964, Schäuffelen).
Aber es gibt ältere Beispiele kombinatorischer Dichtung wie
die Poetikmaschinen des Barock. Hier sei auf Georg Philipp
Harsdörffers Wechselsatz aus dem Poetischen
Trichter (1648-53) verwiesen und auf Quirinus Kuhlmanns
Libes-Kuß (1671), der einem Wechselspiel von 50
Wörtern in vier Versen die Alternativenzahl von 3,4x10
hoch 17 berechnet, was eine 77stellige Zahl ergibt. Und man
kann auf der Suche nach Vorläufern noch weiter
zurückgehen, bis hinab zu den Labyrinthgedichten der
Antike, wobei da weniger das Kreuzwortlabyrinth
interessiert, das den Text in vielfältig verschlungenen
Lesewegen einer letztlich linear-progressiven Lektüre
darbietet, als das textpermutative Labyrinth, das durch die
Vertauschung sprachlicher Bausteine eine Vielzahl an
Textkombination erlaubt. Spielform dieser Art ist das
Gittergedicht, bei dem neben dem fortlaufenden Text
von links nach rechts und von oben nach unten
Intextverse auftreten, d.h. herausgehobene Buchstaben
im Textkörper zB. diagonal durch den
Textkörper , die auch wieder zusammengelesen
werden können (Ernst).
Queneaus Sonettenkarussel und eine Reihe anderer Beispiele
veranlasste Aarseth, den Begriff Cybertext als Hauptbegriff
einzuführen (75), statt zum bereits etablierten Begriff
digital text zu greifen. Dessen Unbrauchbarkeit
als Distinktionsbegriff verdeutlichte er in einer
vorrangegangenen Untersuchung verschiedener gedruckter und
digitaler Texte u.a. I Ching,
Cortázars Rayuela, Saportas Composition
No. 1 und Randi Strands Norisbo. The
paper-electronic dichotomy, so Aarseths Resümee,
is not supported by our findings. It is revealing and
refreshing to observe how flexible and dynamic a book
printed on paper can be, and this gives us an important clue
to the emergence of digital text forms: new media do not
appear in opposition to the old but as emulators of features
and functions that are already invented. (74)
Aarseth nimmt damit
eine Akzentverschiebung von der Materialität zur
Technologie des Textes vor und bezieht zugleich
medientheoretisch die Position der Medienkontinuität
und -koexistenz. Der Gewinn seiner Perspektive liegt
zweifellos in der Erweiterung des Blicks auf Vorläufer
und transmediale Kontinuitäten; der Verlust liegt in
der Vernachlässigung medienspezifischer Eigenheiten
sowie im unterschwelligen Reduktionismus des
Ausgangsarguments. Nur unter der Voraussetzung, dass
Digitalität allein auf Flexibilität und
Kombinatorik verweist und sowohl der Zeitfaktor die
Programmierung des Verhaltens von Text auf dem Bildschirm
wie die Multimedialität die Verbindung
von Text, Bild, Ton nicht als Merkmale digitaler
Existenz in Betracht kommen, nur unter dieser Voraussetzung
lässt sich Digitalität auch im Printmedium
nachweisen. Aber selbst ein solcher Nachweis rechtfertigt
noch nicht die gezogene Schlussfolgerung. Während den
digitalen Medien Hypertextualität bzw. andere Formen
der Kombinatorik als Wesensmerkmal zugeschrieben werden
kann, sind die vorgeführten vergleichbaren Beispiele
aus dem Printbereich Experimente, die sich gerade dadurch
von anderen Vertretern dieses Mediums hervorheben, dass sie
dessen Eigenheiten nicht repräsentieren. Es wirkt
übereilt, die prinzipiellen Unterschiede
zwischen den Print- und den digitalen Medien zu negieren,
weil einige experimentelle Vertreter die Grenzen des einen
Mediums in Richtung des anderen zu sprengen versucht haben.
Die Ausnahme, so ist mit Binsenwahrheiten zu kontern,
bestätigt nur die Regel.
Während die von Nelson annoncierte und von Aarseth
bestätigte Nichtlineariät bzw. Kombinatorik
für den Begriff Hypertext (bzw. Cybertext) verbindlich bleibt, steht die Textualität
angesichts der Entwicklung der digitalen Medien zunehmend in
Frage. Deswegen wird inzwischen synonym zu Hypertext oft
Hypermedia benutzt, wobei viele den traditionellen Begriff
in nun weiter gefasstem Sinne vorziehen (Landow 1997, 3;
Nielsen 1996, 5; Joyce 1995, 40). Man spricht nicht mehr,
wie Nelson einst, von series of text chunks connected
by links, sondern allgemeiner entweder von Lexias
diesen Begriff führt George P. Landow ein, der
ihn wiederum Roland Barthes entlehnte , von
Nodes also Knoten im Netz oder einfach
von Segmenten.
Hypermedia ist, diese Anmerkung sei angeschlossen, wiederum vom
Begriff Multimedia zu unterscheiden, für den Nicholas
Negroponte die simple Erklärung parat hat: Diese
Mischung von Audio, Video und Daten wird Multimedia
genannt: der Begriff klingt kompliziert, beschreibt aber im
Grunde nichts anderes als gemischte Bits. (1997, 27)
Jakob Nielsen erklärt den Unterschied: Auch wenn
viele Hypertextsysteme eigentlich auch Hypermediasysteme
sind und viele Multimediaeffekte beinhalten, so ist ein
Multimediasystem nicht auch automatisch ein Hypertextsystem
[lies: Hypermediasystem]. Die Verbindung von Text
und Grafik reicht dazu nicht aus. Viele Multimediasysteme
beruhen fast auschließlich auf der Vorführung von
verschiedenen Filmclips. Der Benutzer bleibt passiv und kann
sich nicht selbständig im Informationsraum bewegen. Man
spricht nur dann von einem Hypertextsystem [lies:
Hypermediasystem], wenn Benutzer interaktiv die
Kontrolle über dynamische Verbindungen zwischen
Informationsteilen übernehmen können. Der
Unterschied zwischen Multimedia und Hypermedia ist genauso
groß wie der Unterschied zwischen der Betrachtung
eines Reisefilms und der Reise selbst. (1996, 12f.)
Auch Norbert Lang folgt dieser Unterscheidung und bringt sie
auf die schlüssige Formel: Multimedia ist nicht
Hypertext, aber aus Multimedia und Hypertext wird
Hypermedia. (1998, 303)
Die Unterscheidung zwischen Hypermedia und Multimedia läuft
also vor allem über die Frage der Sequentialität
und bestätigt damit noch einmal die Definitionsrelevanz
der Nonlinearität für Hypermedia und Hypertext. Da
man in der Rezeption individuell schließlich doch eine
lineare Abfolge der Texte erzeugt, wird der Begriff
Nonlinearität gelegentlich durch
Multilinearität ersetzt. Damit wird
unmissverständlicher das Novum der alternativen
Realisierung von Lektüregängen durch das
Textgeflecht angesprochen und zugleich die entscheidende
Vorsilbe hyper (griech: mehr, über etwas hinaus)
verständlich als Verweis auf einen Text, der, in seiner
individuellen Kombinationsalternativität, potentiell
eine Vielzahl von Texten ist.