Wenn
Terence Harpold festhält: Writing or reading the
threads, moving along the weave of the hypertextual fabric,
subjects the writer and the reader to the individual and
cumulative effects of the dislokations at each detour in the
tapestry (1991, 173f.), dann ist das
berühmt-berüchtigte lost in cyberspace
unter ästhetischer Perspektive gewiss anders zu
behandeln als unter informationsorganisatorischer. Was im Rahmen der Informationsgewinnung als Problem gesehen und
durch entsprechende Orientierungshilfen von
Navigationserleichterungen im Design über Bookmarks bis
zur History-Funktion des Browsers behoben werden
kann, ist im Rahmen künstlerischer Gestaltung
möglicherweise intendierter Effekt.
Man kann mit Georg Simmels soziologischer Ästhetik
argumentieren, die das asymmetrische Modell als das
der liberalen Gesellschaft über das symmetrische
der Ordnung als das des Sozialismus stellt:
Am Anfang aller ästhetischen Motive steht die
Symmetrie. Um in die Dinge Idee, Sinn, Harmonie zu bringen,
muss man sie zunächst symmetrisch gestalten, die Teile
des Ganzen untereinander ausgleichen, sie
ebenmäßig um einen Mittelpunkt herum ordnen. Die
formgebende Macht des Menschen gegenüber der
Zufälligkeit und Wirrnis der bloß
natürlichen Gestaltung wird damit auf die schnellste,
sichtbarste und unmittelbarste Art versinnlicht. So
führt der erste ästhetische Schritt über das
bloße Hinnehmen der Sinnlosigkeit der Dinge hinaus zur
Symmetrie, bis später Verfeinerung und Vertiefung
gerade wieder an das Unregelmäßige, an die
Asymmetrie, die äußersten ästhetischen Reize
knüpft. (1992, 252)
Simmels
Plädoyer für das Unregelmäßige ist
freilich noch keines für den Zufall. Der
ästhetische Genuss des Asymmetrischen basiert auf
wohlüberlegten Verstößen gegen die
Erwartung. Die Entscheidung für das unchronologische
Erzählen zum Beispiel ist nicht nur eine gegen die
simple Ordnung der Zeit, sondern auch eine für eine
andere, viel kompliziertere Ordnung: der Kausalitäten,
der versteckten Bezüge, der geheimen Zeichen. Selbst in
Tarentinos Pulp Fiction, wo der völlig
unchronologische Handlungsgang nicht einmal auf der
Erzählebene durch einen auktorialen Erzähler
gerechtfertigt wird, ist nicht zufällig der von
Travolta gespielte Killer auf der Erzählebene schon
längst tot, wenn ihm sein Compagnon auf der
Handlungsebene am Ende des Films erklärt, aus dem
Gangstergeschäft aussteigen zu wollen. Die
asymmetrische Ästhetik ist nicht der Verzicht des
Künstlers auf Formgebung, sondern bewusste Gestaltung
auf einem höheren Niveau. Was das ästhetische
Konzept der Hyperfiction betrifft, steht man zunächst
vor der Frage, wie eine künstlerische Formgebung
erfolgen soll, wenn der Autor nicht mehr die Macht über
seinen Text besitzt und dessen Form am Ende dem Leser bzw.
dem Zufall überlassen wird. Diese Frage führt zur
Vorgeschichte nichtintentionaler Formgebung.
Die einschlägigen Debatten verweisen mitunter auf die
Tradition der kombinatorischen Dichtung, die in
ähnlicher Weise die Erstellung des Textes den Lesern
überlässt. Wie schon erwähnt werden die
barocken Poetikmaschinen ebenso herangezogen wie die neueren
Experimente multilinearer Narration der Gruppe Oulipo. Die
Botschaft dieser Ars Combinatoria läuft faktisch
immer wieder auf die Botschaft der Wechselhaftigkeit hinaus.
Quirinus Kuhlmann liefert im Appendix zu seinem Gedicht
Wechsel menschlicher Sachen (1671) den
philosophischen Grund dieser Botschaft: Alles
wechselt; alles libet; alles scheinet was zu hassen: Wer nur
disem nach wird denken / muss di Menschen Weißheit
fassen (vgl. Cramers Website Permutationen). Die
Botschaft entspricht dem Lebensgefühl des kopernikanisch belehrten Barock,
das mit dem Mittelpunktstatus im Sternensystem auch die
Verbindlichkeit des Kanonischen verlor. Wie Eco, dessen
Untersuchungen zum offenen Kunstwerk wesentlich von Luciano
Anceschis Barocco e Novecento (1960) angeregt wurden,
festhält, ist die barocke Form im Gegensatz zur
statischen, unmissverständlichen Bestimmtheit der
klassischen Renaissanceform dynamisch, strebt nach
einer Unbestimmtheit der Wirkung (in ihrem Spiel von
Fülle und Leere, Licht und Schatten, mit ihren Kurven,
gebrochenen Linien, unterschiedlichen Neigungswinkeln) und
suggeriert eine fortschreitende Auflösung des
Raumes (1977, 35). Diese Ästhetik lässt sich
auf die Poetik der kombinatorischen Dichtung
übertragen, die in ihrer permutativen Variante genau
jenes Spiel mit dem Material und jene Dekonstruktion der
bestimmten Aussage darstellt.
Die poetischen Experimente der Oulipo-Gruppe (Ouvroir de
Littérature Potentielle), die sich 1960 um
François Le Lionnais (1901-1984) versammelte, um
traditionelle Literaturformen experimentell aufzubrechen,
schließen an diese Tradition der nicht intentionalen,
subjektentbundenen Texterzeugung an so wie zuvor
schon der Surrealismus mit dem Konzept der
écriture automatique und der Dadaismus mit dem
Konzept der Zufallssammlung sprachlicher Readymades, das
sich später in veränderter Form wiederum in
William Bourroughs Cut-up-Poetik finden lässt. Dass der Surrealist und
Dadaist Marcel Duchamp 1962 zu Oulipo stieß, bezeugt
die Verwandtschaft dieser verschiedenen Avantgardpositionen
auch personell.
Die Intention von Oulipo bestand im Anoulipism
der Analyse von Werken der Vergangenheit auf ihr
avantgardistisches Potential hin und im Synthoulipism
der Erfindung neuer Literaturformen. Ein
Paradebeispiel der neuen, potenziellen Literatur
ist Raimond Queneaus (1903-1976) Cent Mille Milliards de
poèmes (1961), und zwar schon deswegen, weil der
Großteil des hier vorgelegten Textes (immerhin 100
Billionen Lektüregänge) in einer Lebenszeit gar
nicht gelesen werden kann (Quenau veranschlagt über 190
Millionen Jahre ununterbrochener Lektüre), also
tatsächlich im Stadium des Potenziellen verbleibt. Wenn
Lionnais seinem zweiten Manifest als Motto P. Févals
Ausspruch I am working for people who are primarily
intelligent, rather than serious voranstellt, sind
damit wohl die beiden Eigenschaften benannt, die diese
Literatur ihren Lesern abverlangt: statt genießender
Versenkung in die Welt hinter den Buchstaben Lektüre
als intellektueller Witz auf der Oberfläche der
Schrift. Amüsement wird hier nicht geboten oder nur im
Sinne des mathematical entertainments, wie
Queneau, Hauptinspirator der Gruppe, in seiner Beschreibung
der Potentielle Littérature anmerkt.
Amüsant, so Queneau, ist die Arbeit des Oulipo
zumindest für deren Autoren; im übrigen sei, so
die Antwort auf den Vorwurf, Oulipo-Werke seien langweilig,
Amüsement kein angestrebter Wert.
Was Oulipo leistet und was in Begriffen wie
mathematical entertainments und
witticisms, analogous to certain parlor games
anklingt , ist im Grunde die Mathematisierung des
intellektuellen Witzes. Zielt diese Literatur also auf eine
Ästhetik für Mathematiker? Lionnais verweist auf
Pascal und dAlambert als Vertreter sowohl der
Literatur wie der Mathematik und sieht diese doppelte
Nationalität in der Gegenwart in Queneau
auferstanden (Motte 1998, 76). Was freilich noch nicht den
Vorwurf der leeren Akrobatik entkräftigt, den Motte in
seiner Einleitung bezeugt (ebd., 3).
Eine aktuelle Form der Ingenieursästhetik ist
die Pearl-Lyrik, in der zum Beispiel die Zeichenfolge my
$enses nicht nur für my senses steht,
sondern das Dollarzeichen als Textspeichervariable dem Vers
die Zusatzsemantik der Perl-Syntax gibt und somit eine
poetische Verdichtung durch das Zugleich zweier Sprachebenen
erfolgt (Cramer 2001). Wie Cramer einräumt, führen
viele Textspiele mit der Selbstbezüglichkeit digitaler
Codes zu Texten, die nur noch für Computerkenner lesbar
sind. Und doch unterscheiden sich diese Phänomene von
der Akrobatik bei Oulipo, deren Ehrgeiz nicht im Gewinn
einer solchen Zusatzsemantik liegt, sondern in der
Lösung auferlegter struktureller Zwänge, wie im
Falle des Homophonismus, des Palindroms, Lipograms, Pangrams oder Tautograms. Durch diesen Ehrgeiz
unterscheiden sich die Experimente der Oulipo-Gruppe auch
von den zuvor erwähnten aleatorischen Experimenten oder
neueren, digitalen Spielformen der Aleatorik wie The
Great Wall of China von Simon Biggs, wo aus dem
zugrundeliegenden Kafka-Text mittels Textgenerator und
Syntaxprogramm neue Sätze kombiniert werden, und zwar
unendlich viele und unabhängig von semantischer Logik.
Die Experimente der Constrainte-Tradition dazu
sind wohl auch die oben erwähnten kunstvoll gebauten
Gittergedichte zu zählen, wo eins ins andere sich
fügt, so wie Gottes Schöpfung selbst
unterstreichen die Fähigkeit des Autors, trotz
kompliziertester Produktionsvoraussetzungen kohärente
Texte erzeugen zu können, und produzieren gerade durch
diese erschwerten Bedingungen Kreativität (Riha 1980).
Die Experimente des automatischen Schreibens und der
ungezähmten Permutation setzen hingegen die Absage an
ein gestaltendes Subjekt und die Inthronisation des Zufalls
als Schöpfer um. Worin liegt der Reiz dieses
unberechenbaren Autors?
Die Antwort lässt sich zunächst ex negativo geben: Der
Reiz liegt offenbar nicht in einer kohärent
erzählten Geschichte. Die Rezeption aleatorisch
erstellter Werke, die nicht durch eine Nachbearbeitung
intentionalisiert wurden, führt, wie Holger Schulze
es nennt (2000, 74f. u.ö.), zu einem semantischen
horror vacui, wenn man diese Werke nach einem
Sinn bzw. nach Kohäsion und Kohärenz absucht. Der
Leser wird aleatorische Experimente nur dann genießen,
wenn er diese Suche aufgibt und sich auf das nicht
intentionale Spiel der Zeichen einlässt, auf das
Arrangement des Materials und die Erfindung neuer
Text-Welten bzw. Klang-, Farb-, Bild-, Choreographie-Welten,
denn die Aleatorik ist als Konzept ebenso in Musik, Malerei,
Film oder Tanz anzutreffen abseits bekannter,
einschränkender Konstruktionsmuster. Max Bense notierte
1960 in seinem Manifest einer neuen Prosa als Ziel
des Sprachspiels digitaler Texte, der Außenwelt
zugunsten ästhetischer Gewinne semantische Verluste
beizubringen Markoffketten, nicht Bedeutungen
erzeugen Schönheit oder Hässlichkeit (1960,
21) ; Dieter Baake spricht mit Bezug auf die
Unsinnspoesie von einer Propädeutik für
schöpferische Vorstellungen (1995, 377).
Dass dies amüsant sein kann zumal bei lyrischen
Formen, die ohnehin stark mit Wortkonstellationen und
Bildern experimentieren , zeigen solch kuriose
Ergebnisse wie die folgenden, von einem Lyrik-Programm
namens Racter geschriebenen Verse: Bill sings
to Sarah. Sarah sings to Bill. Perhaps they / will do
dangerous things together. They may eat lamb or stroke /
each other. They may chant of their difficulties and their /
happiness. They have love but they also have typewriters. /
That is interesting. (Dickey 1996, 37) Die Wahl zwischen Lammbraten und
Schlägerei und die Verbindung von Liebe und
Schreibmaschine entbehrt gewiss nicht des Charmes, der
letztlich auf der Kooperation von Computer und zwei lebenden
Autoren, Thomas Etter und William Chamberlain, beruht, denn
Etters und Chamberlain gaben das Material und die
Kombinationsmöglichkeiten vor, auf deren Basis der
Computer seine Kombinationen erstellen konnte. Espen
Aarseth schlägt daher statt des üblichen Begriffs
Computerliteratur den Begriff Cyborg Literature vor
a combination of human and mechanical
activities (1997, 134) , wobei er drei Verfahren
der Zusammenarbeit unterscheidet: (1) preprocessing,
in which the machine is programed, configured, and loaded by
the human; (2) coprocessing, in which the machine and the
human produce text in tandem; and (3) postprocessing, in
which the human selects some of the machines effusions
and excludes others (135). Im Falle Racter ist von
Preprocessing zu sprechen, ebenso wie übrigens im
Hinblick auf Queneaus Cent Mille Milliards de
poèmes, die, wie Schulzes Analyse vor Augen
führt, freilich nur auf der Grundlage einer strengen
Komposition unpersönliche Sprechweise,
isolierbare, rekombinierbare Einheiten funktionieren
(2000, 225ff.).
Dass solch künstlich erzeugte Poesie nicht nur als
amüsant empfunden werden, sondern auch ihre Verehrer
und Förderer wider Willen finden kann, zeigt das
Beispiel der beiden Österreicher Franz Joseph Czernin
und Ferdinand Schmatz. Diese hatten, nach Misserfolgen mit
intentional erzeugter moderner Lyrik, ein Computerprogramm
80 Gedichte erstellen lassen, die ihnen endlich die
Verlagstüren öffneten. Als das Buch
Die Reisen. In achtzig flachen Hunden in die ganze
tiefe Grube 1987 beim Residenz-Verlag erschien
und mit Preisen geehrt wurde, lüfteten die beiden das
Geheimnis und brachten damit dem zeitgenössischen
literarischen System eine Wunde bei, in der man seither
jederzeit bohren kann. Im Grunde realisierten Czernin und
Schmatz, was Italo Calvino bereits 1967 in seinem Vortrag
Cibernetica e fantasmi prophezeit hatte.
Die wirkliche literarische Maschine, schrieb
Calvino im Hinblick auf die Rolle des Zufalls als Mittel
formaler Destruierung und Protest gegen gewohnte logische
Zusammenhänge, wird selbst das Bedürfnis
verspüren, Unordnung herzustellen, allerdings als
Reaktion auf ihre vorherige Produktion von Ordnung; die
Maschine wird Avantgarde herstellen, um ihre Schaltkreise
freizupusten, die von einer zu lang anhaltenden Produktion
von Klassizismus verstopft sind. (1984, 14f.)
Unordnung
als Avantgarde, das ist die Rechnung, die sich leicht
anbietet und die wieder den Bezug zu Simmels asymmetrischer
Ästhetik herstellt. Wie schon angemerkt, liegt deren
Sinn allerdings nicht im Verzicht auf Formgebung, sondern in
einer Formgebung, die über die klassischen
Konstruktionsmuster hinausgeht und mit unerhörten
Klängen, wie Franz Josef Czernin es im
Rückblick auf den 87er Coup formuliert (1998, 34),
daherkommt. Czernin beklagt, dass das Publikum meist nur
hören wolle, was leicht ins Ohr geht, und
es kaum als Kompliment für einen Text ansieht, wenn
man nicht gleich beim ersten, zweiten oder dritten
Lesen auf seinen Geschmack kommt (ebd.). Dieser gewiss
berechtigten Klage wäre hier wieder entgegenzufragen,
wie geduldig man aber sein soll mit einem
unverständlichen Text, wenn dieser nicht von einem
Autor komponiert oder zumindest nachsemantisiert, sondern
ganz im Modell des Preprocessing durch einen Computer
erzeugt wurde.
In diesem Zusammenhang ist der Verweis auf eine Differenzierung
hilfreich, die im Einsatz der Aleatorik v.a. in der Musik
vorgenommen wird: Mikro- und Makro-Aleatorik, d.h. die
Verwendung von Zufallsoperationen auf der Kompositions- bzw.
auf der Interpretationsebene. Musik for Changes von
John Cage (hier wird die Tonfolge durch Zufallsoperationen
gewonnen) ist ein Beispiel für die Mikro-Aleatorik, die
III. Klaviersonate von Pierre Boulez (hier kann der
Spieler Reihenfolge, Geschwindigkeit und
Grundlautstärke der nicht klar miteinander verbundenen,
aber intentional entstanden Module selbst wählen) ist
Beispiel der Makro-Aleatorik (Schulze 2000, 27f.). Die
Mikro-Aleatorik entspricht im Grunde den auf
Transformationsgrammatik und Markoff-Ketten beruhenden
automatischen Textproduktionen, die Makro-Aleatorik erinnert
eher an das Prinzip Hypertext, das den Interpreten zum
Komponisten macht, der die Endgestalt des Werkes innerhalb
des vom Autor vorgegebenen Bauplans mitbestimmt:
Multiple Choice für Interpreten (ebd., 28).
Bemerkenswert ist die Kontroverse zwischen beiden
Aleatorik-Varianten, die sich in Boulez Vorwurf an
Cage äußert, dessen Zufallsoperationen
entließen den Komponisten aus der Verantwortung
für sein Werk und maskierten nur Schwächen in der
Kompositionstechnik (ebd., 29); ein Vorwurf, der sich in
aktuellen Äußerungen gegenüber den Autoren
von Hyperfictions wiederholen wird (vgl. Abschnitt 9).
Der Reiz aleatorischer Verfahren liegt in der Auflehnung
gegen den Denk- und Realitätszwang, gegen logische,
praktische und ideelle Normen, wie es Klaus Peter
Dencker für die wahlverwandte Unsinnspoesie
festhält: Die Freiheit des Denkens soll in der
Lust am Unsinn gerettet werden.(1995, 11) Wenn Dieter
Baake im gleichen Zusammenhang erklärt Nonsense
ist Schöpfung ohne Mythos und Logos (1995, 376),
so gilt dies nicht minder für den Zufall, der den
Schöpfungsprozess vom Autor, als dem potenziellen
Träger von Mythos und Logos, löst.
Theoretische Rückendeckung in ambitioniertester Form
erfährt der Aufbruch ins Spiel des Nichtintentionalen
im Hinweis, dass der Zufall zugleich von der zufälligen
Subjektivität befreie. So notiert Schulze im Hinblick
auf Queneaus Cent Mille Milliards de poèmes
zum Beispiel: Das polyphone Spiel ist für
Queneau ein heuristisches Mittel, um die unterschiedlichsten
Perspektiven mit ihren Intentionen zu Wort kommen zu lassen
alle Stimmen, Stile, Weltbilder. (2000, 231)
Diese Erklärung greift hoch hinaus und verpasst der Ars Combinatoria eine gewichtige gesellschaftspolitische
Funktion: Die Polyphonie ist demnach Ausdruck eines
Kontingenzbewusstseins, das sich eingestehen kann, dass
»un message na plus de réalité que
tout le reste«, eine Position, die bei Cage zu
beobachten war, im Zen-Buddhismus, vor allem aber in
Schwitters Position des »Alles stimmt aber auch
das Gegenteil«. (ebd.) Ohne dieses Bewusstsein um
die Kontingenz des eigenen Standpunkts, so Schulzes Finale
mit Zitatanleihe bei Ludwig Harig, würden die Menschen
Einstellungen und Ideologien so ernst nehmen, dass sie sich
für die geglaubte Wahrheit dieser Worte den
Schädel spalten lassen (ebd.).
Damit sind wir im philosophischen Einzugsgebiet der Postmoderne.
Aleatorik und Kombinatorik werden hier aus dem Geiste des
Konstruktivismus verstanden; der Verlust der Wahrheit
führt wie im Barock einst der Verlust der
kosmischen Mitte zum Spiel mit den Zeichen.
Allerdings erfolgt die ästhetische Übersetzung des
konstruktiven Charakters aller Wahrheitsbehauptungen im
vorliegenden Fall in einer Form, die keineswegs zwingend
ist. Die Verabschiedung der einen Wahrheit erfolgt im
postmodernen Modell eher in der Dekonstruktion des Gesagten
als in dessen unendlicher Variation oder in apriorischer
Sinnverweigerung. Es ist nicht so, dass am Ende gar nichts
mehr behauptet würde, wie Manfred Frank unter dem
Stichwort Nichtinterventionalismus der Postmoderne
unterstellt (Frank 1993, 138). Es werden durchaus Aussagen
getroffen und Positionen eingenommen, nur eben ohne jenen
Wahrheitsanspruch, ohne jenes philosophische happy
end (Veyne 1991, 213), das zu fundamentalistischen
Haltungen führt (vgl. Simanowski 1997).
Auf den Sachverhalt der Kontingenz kann selbst polyphon reagiert
werden. Die fröhliche Feier des Zufalls ist keinswegs
die einzige Reaktion, und vielleicht ist sie, eben wegen des
eintretenden semantischen horror vacui, didaktisch
sogar die ungeschickteste. Sie betreibt Aufklärung
durch Radikal-Befremdung aufgrund der falschen Vorannahme,
dass jede Ordnung gleichermaßen berechtigt, weil
gleichermaßen konstruiert und kontingent sei.
Konstruktivistisch argumentiert ist aber nicht jede Ordnung,
einschließlich der des Zufalls, gleichermaßen
konstruiert, denn konstruierte Ordnungen entstehen aus
kollektiv geteilten Diskursen und Kulturalisationen und
gelten auch nur innerhalb dieser als zwingend und wahr. Die
hermeneutische Binsenwahrheit besagt, dass die Vermittlung
des Unbekannten auch Anschließbarkeiten an Bekanntes
mit sich führen muss, da bei einem Übermaß
an Unordnung Baake nennt dies im Hinblick auf den
Nonsense euphemistisch: Information (1995, 377)
Rezipienten ihr Interesse am Entziffern verlieren.
Ein Umbau der Wahrnehmungsmuster, der dies in Rechnung stellt,
wird in die Logik der Konstruktionen schlüpfen und
deren Annahmen gewissermaßen von innen durch
Strapazierung der Glaubwürdigkeit in Frage stellen.
Beispiel einer solchen
Wolf-im-Schafspelz-Ästhetik sind die
Websitefälschungen, die den offiziellen Diskurs der
behaupteten Institution sei es ein
Wirtschaftsunternehmen, sei es das Bundesministerium des
Innern oder die World Trade Organisation scheinbar
wiedergeben, in Wahrheit aber durch einen Gegendiskurs
ersetzen (vgl. Simanowski 2001a). Hier wird Skepsis in
Botschaften und Deutungsmonopole nicht durch die Abwesenheit
jeglicher Semantik, sondern durch das doppelte Spiel mit
dieser vermittelt. Ein vom ästhetischen Ansatz her
weniger radikales Verfahren als die Zertrümmerung allen
Sinns in Aleatorik und Nonsense, im Ergebnis letztlich
jedoch radikaler als jene Spiele, gerade weil es keine
Engführung ins Reich des Spiels bedeutet.
Auch die aleatorische Textgenerierung in digitalen Werken
stützt sich z.T. auf die Argumentation der
Präsentationskritik. Im Hinblick auf Simon Biggs
The Great Wall of China spricht Christiane Heibach von
einer Verschiebung des kognitiven Schwerpunkts vom
Lesen fixierter Buchstaben hin zu einer umfassenden
Wahrnehmungsleistung, bei der die Suche nach Bedeutung
von der Schrift abgekoppelt und auf den Prozess der
Transformation verlagert wird. Dieser geht vom Text
über dessen Transformation hin zu der Beobachtung
des eigenen Rezeptionsverhaltens angesichts
solcher Schriftperformanzen. (Heibach 2001) Die Intention dieses wie ähnlicher
Permutations-Projekte sei die Entsemantisierung der
Schrift, das Unterlaufen der Repräsentationsfunktion
der Schrift durch ihre Zertrümmerung.
Die Verweigerung des Sinns kann auf eine lange Tradition
zurückblicken, die sich auch mit den Ereignissen in der
bildenden Kunst von den Anfängen der
Sichtweisendarstellung bis zur Etablierung einer formalen
Ästhetik kreuzt und in den digitalen Medien in
verschiedenen Formen fortgeführt wird; so etwa im
Text-Zertrümmer-Browser Shredder von Mark
Napier, im Text-Spiel Dominoa von Petra
Harml-Prinz u.a. oder eben in der Sprachmaschine The
Great Wall of China. So wie das abstrakte Bild den
Gegenstand verweigert, verweigern diese Text-Projekte eine
Geschichte und lassen den Text nurmehr zum Anlass einer Metareflexion
werden, die immer wieder den Artefakt des
Geschichtenerzählens und -rezipierens selbst
thematisiert. Zwar nimmt die Schrift in The Great
Wall of China weiterhin eine wesentliche Rolle ein,
nämlich als vorauslaufender, durchaus semantisierter
Text der Kafka-Vorlage, dessen Bedeutung sich unweigerlich
als Paratext in Biggs aleatorisches Spiel einschleicht
(vgl. Simanowski 2002a). Aber ohne diesen Bezug
wäre gerade Biggs Texterzeugungsmaschine ein
gutes Beispiel für die Bewegung von der Semantik und
Sichtweise zur reinen Sichtbarkeit, wie Lambert
Wiesing es für die Geschichte der formalen
Ästhetik festhält (1997), auch im Bereich des
Digitalen. Diese Bewegung führt
letzlich und das wäre dann auch eine
mögliche Zielvorstellung für die absolute
aleatorische Dichtung auf die Oberfläche der
reinen Textpräsenz: Text will nicht bedeuten, sondern
nurmehr die Abwesenheit von Bedeutung anzeigen. Der
ästhetische Reiz liegt in der Zuwendung zu etwas, das
sich nicht durch die übliche Sinnentnahme bändigen
lässt. Umschwung von einer Hermeneutik zu einer Erotik
der Kunst (Sontag 1989, 22)?
Wenn Friedrich W. Block in seinem Aufsatz Zum
Ort digitaler Literatur im Netz der Literaturen auf die Avantgarden Anfang und in den
60er, 70er Jahren des 20. Jahrhunderts verweist und die
Geburt digitaler Dichtung aus dem Geist des
literarischen Experiments ausruft, tut er dies mit
guten Gründen (2001, 101). Die Anfänge der
Dichtung mit dem Computer sind, wie Block erinnert,
keine Erfindung im luftleeren Raum, auch nicht
wie vielfach erzählt wird der amerikanischen
Hyperfiction in den späten Achtzigern (102). Die
poetischen Orientierungsmuster der experimentellen Dichtung
die Arbeit mehr mit, als in der Sprache, die
Thematisierung des Produktions- und Rezeptionsprozesses
gelten zweifellos auch für die Auslotung neuer
künstlerischer Formen in den digitalen Medien. Es ist
allerdings auch in Rechnung zu stellen, dass die
Hyperfictiontheoretiker und autoren selbst sich
weniger in der von Block vorgebrachten Tradition d.h.
der visuellen, Laut- und Aktions-Poesie sowie Fluxus, Pop-
und Konzeptkunst, Mail- oder Copy-Art sehen als in
einem Bezug zu nonlinearen Erzählweisen, wie sie sie
bei Lawrence Sterne, James Joyce und Jorge Luis Borges
finden (Joyce 1995b, Coover 1992). Ihr Interesse gilt
trotz des Augenmerks auf das zugrundeliegende Material und
trotz der Metareflektion auf den Produktions- und
Reproduktionsprozess dem Erzählen, wenn auch
einem Erzählen, das sich von der traditionellen
Literatur prinzipiell unterscheidet. Und so bevölkern
sie ihre Texte mit konkreten Personen, Ereignissen,
Konflikten.
In dieser Hinsicht ist auch Anja Raus Kritik nicht ganz
gerechtfertigt, dass viele Hyperfiction-Theoretiker mit
überkommenen Literarturkonzepten und Begriffen
operieren und weiterhin Kategorien wie Sinn, Vorschau,
Telos, Einheit, Repräsentation u.ä. ansetzen
(2000, 31 und 37). Die Mahnung, man könne neue
Phänomene nicht mit alten Kategorien analysieren,
klingt zunächst plausibel, allerdings verlangt der
Gegenstand selbst eine solche Analyse, sofern er am
Erzählen festhält. Was freilich nicht heisst, dass
die andere Poetik des Erzählens nicht neue Antworten
auf alte Fragen verlangen würde. Natürlich
gestalten sich Plotaufbau und Figurenentwicklung anders,
wenn eine nichtlineare Struktur zugrundeliegt. So lange es
Plot und Figuren weiterhin gibt, sind die Fragen danach
jedoch weiterhin zu stellen. Denn in den klassischen
Hyperfiction wie Michael Joyces Afternoon und Stuart
Moulthrops Victory
Garden, aber auch in Hyperfiction jüngeren Datums
wie den Preisträgern des New York University Press
Prize for Hyperfiction 1999, Adnan Ashrafs The
Straight Path und Pratik Kanjilals The Buddha
Smiled, sowie dem Preisträger des Pegasus 1997
Zeit für die Bombe von Susanne Berkenheger oder
der Preisträgerin des Electronic Literature
Organisation (www.eliterature.org) Award 2001
These Waves of Girls von Caitlin Fisher und selbst in
Olia Lialinas minimalistischer Hyperfiction My Boyfriend
Came Back From the War geht es ganz klar um das
Erzählen mit digitalen Mitteln, d.h. um ein
Erzählen, das unter dem Vorzeichen der
Navigationsalternativen steht. Die Autoren komponieren
alternative Strukturen, die die Geschichte nicht
zerstören, sondern in verschiedenster Weise in deren
Dienst treten. Die Frage, auf die zurückzukommen ist,
lautet, wie dieser Dienst aussehen kann.
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