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8.
Semantik des Links
David
Kolb betont 1994, dass ein Gebilde aus willkürlich
zusammengesetzten Fragmenten nicht lang interessant ist:
Flipping the channels on cable television can produce
exciting juxtapositions, but only for a while. Active
reading becomes passive titillation. Later it becomes noise.
We need forms of hypertext writing that are neither standard
linear hierarchical units nor the cloying shocks of simple
juxtaposition. (339)
Wie könnten diese Formen aussehen? Dass sie im
Jahre 2001 noch immer nicht gefunden sind, zeigt der
Einladungstext zum Hypertext Narrative Flash Time
Symposium September 2001 in San Francisco: The
role of narrative in Web experience is a pressing concern
throughout the Web world, from entertainment to ecommerce.
While new technologies for hypertext and web-based motion
graphics promise to bring powerful narrative experiences to
the Web, the reality is not so rosy: engaging web narrative
is still hard to find, and commercial motion graphics have
largely failed to merge sophisticated interaction with
compelling storytelling. How can we manage the narrative
experience in the presence of both interaction and
animation? (www.enarrative.org)
Im
Zentrum der Untersuchung muss auf jeden Fall der Link
stehen, der das multlineare Erzählen ursprünglich
konstituiert, und deswegen, wie Jürgen Daiber 1999
fordert, zum klassischen Instrumentarium der
Literaturwissenschaft als formales Analysekriterium
hinzutreten sollte. Es wurde schon auf die Psychologie des
Links eingegangen und unter dem Stichwort der
Karnevalisierung wurde auch bereits das Problem mangelnder
Link-Semantik angesprochen. Es ist nun im Kontext des
literarischen Hypertextes zu fragen, wie der Link als
Stilmittel eingesetzt werden kann.
Zunächst ist die Dreifachfunktion des Links als Teil des
Textes, als Index eines anderen Textes und als Absprung zu
diesem anderen Text festzuhalten. Wenn es z.B. in Caitlin
Fishers These Waves of Girls eine multimediale
Hyperfiction über die Findung lesbischer Identität
in einer Bar-Szene heisst: I tell her I love
her. She loves me too, she says, just not as
much as I love her (www.yorku.ca/caitlin/waves/beamroutine5.htm), dann lesen sich die
unterstrichenen Worte als Aussage innerhalb der
vorgefundenen Situation, aber zugleich als Hinweis auf einen
Link zu einem Text, der mit dieser Situation in
irgendeiner Weise als Illustration, Relativierung,
Negation in Verbinding steht. Man weiß freilich
noch nicht, welcher Beziehung beide Teile eingehen, denn die
Konjunktionsfunktion des Links ist zunächst neutral
Und. Hier kann die Autorin mit Erwartungen, die im
Text vorher vielleicht selbst aufgebaut wurden, spielen. Der
Leser unternimmt, indem er die zugrundeliegende Konjunktion
vorauszusagen versucht, bereits einen Kommentar zum Werk.
Der Link ist vor allem wenn er im fortlaufenden Text und
nicht gesondert unter diesem erscheint die
buchstäblich buchstäbliche Anwesenheit des Anderen
im Eigenen: ein interior gateway (Shields 2000,
151). Damit eröffnet sich eine zusätzliche
semantische Ebene: Welches Andere wird durch welchen Link
bzw. Linklabel repräsentiert und wie verhält sich
dies zum textuellen Kontext des Links? Führt ein Link,
der auf dem Wort »Leere« liegt, zu einer leeren
Seite, dann ist diese überraschende, aber auch sehr
aufdringliche und schnell erschöpfte Umsetzung des
verlinkten Wortes in ein anderes Zeichensystem gewiss noch
kein überzeugender Umgang mit der semantischen
Doppelrolle des Links. Führt in einem Online-Journal
die Erwähnung von crass commercialisism or
degeneracy zu diesem Journal selbst, dann wird eine
Ironisierung vorgenommen, die den Fakt der
Kommerzialisierung nachhaltig thematisiert (Johnson 1997,
134). Führen die oben angezeigten Links in Tracys
Aussage über Vivian zu Szenen zwischen Tracy und Jenny,
die ahnen lassen, dass diese Tracey mehr liebt als Tracey
sie, wird mit dieser Verbindung ganz wortlos die alte
Geschichte vom Ungleichgewicht der Gefühle und vom
Wandel der eigenen Rolle darin als Täter und
Opfer thematisiert.
Aus der angesprochene Bar-Szene entwickelt sich schließlich
eine Situation, in der ein Mittdreißiger der
sich aus seinen Daiqiri-Spenden
Rechte auf die 15jährige Tracy
ableitet Tracy in einem abgelegenen Raum
bedrängt. Sie rettet sich durch einen Strip, He
jerks off. Dismount. Hinter dem Link findet
man so etwas wie das Zentrum der Geschichte, denn diese
Seite (www.yorku.ca/caitlin/waves/erotic.htm) ihr Titel
lautet erotic
ist ganz weiß und ohne jeglichen
weiterführenden Link. Von rechts nach links
läuft im endlos Loop in roter Farbe die Zeile:
and it was the most erotic year of my life. Was sagt dieser Link
über die eben bezeugte Szene? Jedenfalls nicht, dass
Tracey daran seelisch großen Schaden nahm. Das Fehlen
eines weiterführenden Link deutet eher an, dass es eine
Sackgasse war, dass es um diese Erotik nicht ging.
Interessant ist ein gezielt die Betonung liegt auf gezielt
eingesetzter Widerspruch zwischen der durch den
Link-Text aufgebauten Erwartung und dem durch den verlinkten
Node Repräsentierten. Beispiel dafür ist der Node
048 in Stuart Moulthrops Hyperfiction Hegirascope. In
diesem Node (http://raven.ubalt.edu/staff/moulthrop/hypertexts/HGS/HGS048.html) wird ein Traum erzählt,
der mit den Worten beginnt: This is the dream of
remote control. In this dream you can press a button
whenever you like and totally reconceive the world around
you. Click, you are two hundred feet tall looking down on
sleeping suburbia [
]. So
gelassen wie hier kann man diesen Traum jedoch nicht lesen.
Nach 10 Sekunden, ungefähr nach dem Versprechen der
Kontrolle per Knopfdruck, macht der Node einem schwarzen
Bildschirm Platz, in dessen Mitte gelb hervorgehoben und
unterstrichen wie ein Link - click - steht, was sich
aber als Täuschung herausstellt das Wort ist
kein Link. Da eine andere Möglichkeit nicht angezeigt
ist, muss man die Zurück-Taste betätigen, um den
Traum weiter zu lesen, und natürlich wechselt der Node
nach 10 Sekunden erneut. Man erkennt bald, dass einem nicht
nur die erhoffte Fernkontrolle nicht zugänglich ist,
sondern im Gegenteil man selbst aus der Ferne gesteuert
wird. Der Mythos des Internet, der Traum, zu allem
überall und jederzeit per Klick Zugang zu haben,
zerfällt in der Wartezeit am schwarzen Bildschirm bzw.
im Hin-und-her-Eilen, um wenigsten die Sätze, die das
nichtgehaltene Versprechen machen, auslesen zu können.
Unter dieser Aussage gibt es allerdings eine weitere. Neben
dem falschen Link sind im Dunkel des Bildschirms mehrere
aktivierbare Links versteckt, die bei Mausberührung rot
aufleuchten. So gibt es durchaus Verbindungen, nur darf man
sie nicht an den angegebenen Orten suchen. Eine
banale Aussage, wäre sie in Worte gefasst, hier aber
liegt sie allein in der programmierten Zeit- und
Linkstruktur und ist in solcher Gestalt doppelt
dekonstruktionistisch und zugleich performativ.
Vor
dem Hintergrund dieser Beispiele ist Kolbs Auffassung zu
relativieren Hypertext links can change a lexias
relations and its role within a whole or context but they do
not make it reflect on or exceed ist own unity.
(1994, 336) Zwar ist durch die Atomisierung der Einheiten
eine ausholend durchgeführte Dekonstruktion in der Tat
unwahrscheinlich, aber das vorliegende Beispiel zeigt, dass
sich auch neue Möglichkeiten ergeben. Mit Rob Shields
ist gegen Kolb festzuhalten: a node gains its nodal
identity by the existence of links to other elements
(2000, 150).
Die
Dreifachfunktion des Links als Zeichen, Verweis und Aktion
kann auch für eine Thematisierung des
Rezipienten genutzt werden. Wenn der Erzähler in
Susanne Berkenhegers Zeit für die Bombe an einer
Stelle sagt: ... die ruhigeren Naturen ... folgen
mir, ist plötzlich der Leser angehalten, seine
Navigationsentscheidung aufgrund einer
Selbsteinschätzung zu treffen, und wird, wenn auch
nicht zur Figur der Geschichte, so doch zu einem
herausgehobenen Faktor des Vorgangs. Figur der Geschichte
wird er hingegen, wenn Iwan, eine der Hauptfiguren,
unberechtigterweise einen Koffer öffnet, auf einen
Mechanismus stösst, der wie eine Bombe aussieht, und
auf einen Schalter, den er zu drücken versucht ist.
Wollen wir, heisst es da, nicht alle immer
etwas drücken oder drehen, irgendwo draufklicken und
ganz ohne Anstrengung etwas in Bewegung setzen? Das ist doch
das Schönste. Iwan, tu's doch einfach, drück
den kleinen Schalter! Die Rede des Erzählers
ist suggestiv, richtet sich aber mehr an die Leser als an
Iwan, denn die Leser müssen den Link betätigen und
somit die Bombe zünden, die Iwan später
zerreißen wird.
Es
handelt sich im doppelten Sinne um die Zündstelle des
Textes, der hier zum Metatext wird und sein eigenes Medium
reflektiert. Es geht um die Gestik des Klicks, um die
Bereitschaft, sich aus reiner Neugierde auf die Gefahren
anderer Leute einzulassen. Dieser Aspekt wurde vorher im
Text aufgeworfen, als Iwan den Lesern zurief:
Verschwindet! Zerfallt zu Staub! Selber bequem in der
warmen Stube hocken und sich dann genüsslich lesend an
meinem Unglück aufgeilen. Die vorliegende
Link-Semantik ist im Grunde der digitale Kommentar zur schon
von Lukrez in De rerum natura beschriebene
Psychologie der Lektüre Süß
ist's, anderer Not bei tobendem Kampfe der Winde / Auf
hochwogigem Meer vom fernen Ufer zu schauen ... (2,
1-2) , die Hans Blumenberg treffend Schiffbruch
mit Zuschauer nannte. In Zeit für die
Bombe wird der Zuschauer allerdings zum Auslöser
des Unglücks und, auch das ist neu, es drohen ihm sogar
Konsequenzen, denn der Link könnte so programmiert
werden, dass seine Aktivierung einen Virus
überträgt oder wenigstens einen Systemcrash im
Computer des Lesers verursacht. Im vorliegenden Text wird
die Bestrafung zwar angekündigt Iwan droht den
Lesern mit einer Handgranate , bleibt dann allerdings
aus.
In
der bewussten Semantisierung des Links durch den Autor liegt
die Chance des literarischen Hypertextes, wie Tuman schon
1992 gegen das Konzept der programmgenerierten,
indexikalischen Links betonte (1992b, 70). Wie die Beispiele
gezeigt haben, vollzieht sich diese Semantisierung im
Schnittfeld von Absprungs- und Ankunftsort. Die direkte,
sofort einleuchtende Verlinkung ist dabei nicht unbedingt
die interessanteste. Wenn in Fishers These Waves of
Girls in dem Satz I tell
my grandmother that Im
glad to know her der Link wie erwartet zu Erinnerungen
führt, die sich mit der Großmutter verbinden, entspricht
das zwar den Konventionen der Verlinkung. Die Befolgung der
Konvention ist jedoch keine Auszeichnung in einem
literarischen Text, der im Sinne Lotmans als
sekundäres Sprachsystem auf dem System der
natürlichen, alltäglichen Sprache aufsetzt, im
Kontrast zu diesem aber nicht auf Eindeutigkeit, sondern auf
Erwartungsbrüche zielt. Der literarische Mehrwert liegt
in der Ambivalenz. Im angesprochenen Beispiel ist die Verbindung passgenau
und flach, das Link-Wort könnte in den meisten
Kindheitserinnerungen als Kapitelüberschrift stehen: Es
verbindet, aber es sagt nichts. Interessant sind Links, die
der Deutung bedürfen. Bleiben
wir bei These Waves of Girls.
In
einem Node erfahren wir Traceys Wunschtraum, ins Bett der
heimlich geliebten Lehrerin zu kriechen (www.yorku.ca/caitlin/waves/tell10.htm).
Der Node linkt zu Traceys Großmutter, mit der sie sich
als Kind im Bett Geschichten erzählte, und dieser Node
beginnt bezeichnenderweise mit den Worten: I am
growing up but not out of my grandmother's bed. Der Link verbindet
zunächst einfach zwei Bettszenen. Im vorliegenden Falle
kann oder muss man ihn allerdings auch als eine
Erklärung lesen, als eine Erklärung der erotischen
Phantasie von heute aus den Kuschelstunden von damals. Der
Link wandelt sich von der Kunjunktion und zur
Konjunktion weil: Es gibt den erotischen Tagtraum,
ins Bett der Lehrerin zu kriechen, weil die Erfahrung
der Stunden im Bett der Großmutter das
Gefühlsleben der Jungen Tracy unauslöschlich
geprägt haben. Betrachten wir ein weiteres Beispiel aus
dieser Geschichte.
In
einem anderen Node fällt Tracey vom Baum und
hört die Hilfebringenden aus der Ferne herbeieilen
(www.yorku.ca/caitlin/waves/farm_scar.htm).
Der Link, der auf den Rennenden liegt, führt zur
Geschichte um Neil, der einst auf dem Weg zum Haus stolperte
und seinen Arm in eine Glastür rammte. Im verlinkten
Node eilt nun der Fahrer des Schulbusses, der ebenso
wie die anderen Schüler alles sah, Neil zu Hilfe; die
Datei lädt automatisch ein Audiofile mit
Laufgeräuschen. Insofern ist der Link plausibel, denn
einmal ist Tracey Opfer, einmal Zeuge einer Unfalls, einmal
gelten die Schritte, die den Link konstituieren, ihr, einmal
einem anderen. Das Problem dieser passgenauen Verlinkung
ist, dass man, vom Apfelbaum in die Neil-Geschichte
geschickt, eigentlich zu spät kommt: Das Unglück
ist schon passiert und man weiß nicht, warum die Leute
rennen und warum Neils Arm so blutig ist. Wohin soll man
linken? An den Anfang einer erinnerten Szene Tracey
assoziert ja nicht nur das andere Rennen, sondern den
anderen Unglücksfall, aus dem dieses entstand
oder genau an jene Stelle, an der das Stichwort auftaucht?
Auch die erste Option birgt Probleme, da dann der Bezug zu
den eilenden Schritten noch nicht gegeben wäre, die
Linklogik also zunächst unverständlich bleibt. In
diesem Falle erwartet die Autorin von ihren Lesern Geduld
und das Vertrauen, dass mit einer solchen die Motivation des
Links sich bald erweisen wird. Es ist eine Frage des
Vertrauens der Leser in den Stil des Autors.
Dieses
Vertrauen wird auf die Probe gestellt, wenn man den Links in
besagtem Node über den unglücklichen Neil
folgt. I see my hand on the green vinyl on the
seat in front of me. An arrow shoots right through me
into my chest like love, only theres this
scream. Mrs. Lomax is screaming help
and adults are running. Fay runs out of the bus, then
everyone but me joins the little half circle around
Neil. Der erste Link führt zu Traceys
Gefühlen gegenüber Jennie, der zweite zu einer
erotischen Szene zwischen Tracy und Fay. Beide Assoziationen
scheinen nicht zum blutenden Neil zu passen und provozieren
die Frage nach der Ethik der Links. Ist es nicht zynisch,
von Neil jetzt zu jenen Liebesspielen zu linken! Aber wem
wäre der Zynismus zuzuschreiben: Fisher oder ihrer
Erzählinstanz? Anders gefragt: Ist es Gedankenlosigkeit
der Autorin oder intendierte Aussage mit den Mitteln des
Hypertextes?
Die
Frage, was man einem Link zutrauen soll, stellt sich in
einer Hyperfiction fortwährend. Es gehört zum
Wesen der Hyperfiction, dass solche Fragen für den
Leser nie restlos zu klären sind. Der Link kann sich
einfach auf Stichwörter stürzen und
zusammenbringen, was auch im Lexikon nebeneinandersteht.
Oder er kann die anspruchsvollere Variante die
Verlinkung zum Anlass einer zusätzlichen Aussage
nehmen; so wie Texte neben ihrer denotativen Bedeutung eine
konnotative in sich tragen, die der Interpretation
offensteht. Der Hypertext verlegt die Arbeit der Ausdeutung
und Anschlüsse auf die Verlinkung. Der Link ist Isers
Leerstelle, aber eben nicht im oberflächlichen,
mechanisierenden Sinne der Frage, ob man von einem Node mit
Link a oder Link b fortfährt, sondern als Frage, ob
Link a nur und oder auch deshalb oder
trotzdem oder aber heisst. Freilich, man
braucht Beweise dafür, wie tief man bei einem Autor
bzw. einer Autorin schürfen darf; und da Hypertexte nun
einmal an sich auf Verlinkung abgestellt sind und eine
solche aufzuweisen trachten, wird man den fleißig
gesetzten Links nicht immer viel Überlegung und
Bedeutung unterstellen dürfen. Und doch: Hinter
den Kriterien, nach denen Links angeordnet werden, verbirgt
sich so etwas wie die Persönlichkeit desjenigen, der
sie gesetzt hat. Die Struktur der Links ist eine Spur, ein
Abdruck einer diskursiven Strategie. Hier zeigt sich, ob die
Ökonomie des Diskurses bestimmten Relevanz-
und Kohärenzkriterien folgt oder rein willkürlich
den Leser in die Irre leitet. (Wirth 1997, 326) Gute
Autoren werden genau diesen Umstand ernst nehmen und banale
Links ebenso vermeiden, wie sie vorgeprägte Wendungen
und verbrauchte Bilder vermeiden. Trivialität definiert
sich bei der Hyperfiction auf der Sprach- wie auf der
Linkebene.
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