Wenn diese Beispiele zeigen, wie Links semantisiert werden
können, so bezieht sich das freilich jeweils auf das
unmittelbare Verhältnis zweier Nodes. Komplizierter
wird es, will man die Verlinkung über das direkte
bilaterale Verhältnis hinaus sinnvoll organisieren. Da
verliert man leicht den Überblick, denn die
exponentiell steigenden Naviagtionsalternativen führen
zu einer solchen Vielzahl an Verbindungen, dass der aktuelle
Text, der vom Leser aus den virtuellen Texten generiert
wird, vom Autor in seiner Konkretheit nicht mehr
vorweggenommen werden kann. Das Problem der
geschwächten Ordnung reflektiert schon Coover in seinem
Hohelied auf die Ankunft des Hypertext: With an
unstable text that can be intruded upon by other
author-readers, how do you, caught in the maze, avoid the
trivial? How do you duck the garbage? Venerable
novelistic values like unity, integrity, coherence, vision,
voice seem to be in danger. (1992) Janet Murray, wie
Coover Advokat der Hyperfiction, fragt gleichwohl: How
can the author retain control over the story yet still offer
interactors the freedom of action, the sense of
agency. (1997, 187)
Hyperfiction-Theoretiker raten daher gelegentlich zu einer
Vereinfachung der Struktur. So plädiert Mark Bernstein
1998 in seinem Artikel Hypertext Garden für eine
ausgewogene Mischung zwischen Ordnung und Wildnis:
Gardens are farmland that delights the senses; parks
are wilderness, tamed for our enjoyment. Large
hypertexts and Web sites must often contain both parks and
gardens. In
der Praxis sieht dies dann so aus, dass eine vorgegebene
Ordnung in den Text hineinführt, ehe ein Node mit
Linkalternativen Navigationsentscheidungen abfordert; so
etwa in Stuart Moulthrops Hegirascope, Mark Amerikas
Grammatron und Susanne Berkenhegers Zeit für
die Bombe. Karin Wenz resümiert
diesbezüglich: the restricted interactivity of
most hypertexts is grounded in the necessity to make the
hypertext intelligible and to maintain a cohesive structure
of the text. (1998,
304)
Auch Marie-Laure Ryan, die
der Frage der Planung des Lektüreganges und der
Verbindung von Immersion und Interaktivität ein ganzes
Buch widmet (2001), optiert für eine einfache, für
Autor und Leser leicht zu handhabende Linkstruktur, wobei
die Reduktion der Textmenge dafür eine unbedingte
Voraussetzung darstellt. Ryan kritisiert die Überforderung
des Publikums durch romanlange Hyperfiction: the
traditional length of the genre motivated hypertext authors
to start right away with large compositions that made
unreasonable demands on the reader's concentration. Instead
of being gently intiated into point-and-click interactivity
readers were intimidated by the forbidding complexity of a
maze which they had no fair chance to master. With the
arrogance typical of so many avant-garde movements,
hypertext authors worked from the assumption that audiences
should be antagonized and stripped of any sense of security,
rather than cajoled into new reading habits. (2001,
265) Ryan sieht die Zukunft der Hyperfiction in direct interest durch die Konzentration
auf relatively
self-contained lexias such as poems, aphorisms, anecdotes,
short narrative episodes
sowie in der
Multimedialisierung Give up on the idea
of an autonomous »literary« genre, and take
greater advantage of the multimedia capability of the
electronic environment. (2001, 265) Als
Möglichkeiten, narrative Kohärenz zu sichern,
nennt Ryan in einem früheren Interview einen starken
Autor authorial control over the paths taken by
the user [..] exercised by giving a memory to the
system, so that it will be only possible for the user to
reach a certain segment after another one has been
visited sowie die Minimierung der Linkanzahl
(2000a).
Was den Ruf nach einem starken Autor betrifft, so spiegelt sich
darin die postrevolutionäre Situation, in der mit
abgekühlterem Blute und reichlich Erfahrung des Neuen
differenzierter erörtert wird, was am Alten
bewahrenswert ist. Zudem hat sich inzwischen die Einsicht
verbreitet, dass die Autorposition nie wirklich
verlorenging, ja, dass sie gar noch gestärkt wurde. Im
Grunde war dies schon bei Bolter nachzulesen: Far from
abandoning control of the text, the electronic author can,
if he or she chooses, exercise greater control over the
process of cross-reference. In printed fiction, not all the
readers, perhaps very few, will register any particular
references. (1991, 160) Andere haben darauf
hingewiesen, dass die Navigationsfreiheit der Leser nur
innerhalb der vom Autor gesetzten Links besteht, dass die in
Storyspace üblichen Guard Links
die bestimmte Nodes nur unter bestimmten Bedingungen
zugänglich machen die Macht des Autors über
den Lektüreprozess stärken, ebenso wie
übrigens jener oben erwähnte automatische Ablauf
verschiedener Nodes im Refresh-Verfahren. Hinsichtlich
der Freiheit der Linkwahl kommentiert Ryan sehr passend:
One wonders what conclusions would have
been drawn about the political significance of hypertext and
the concept of reader-author if the above-mentioned critics
had focused on the idea of following links, or on the
limitation of the reader's movements to the paths designed
by the author (2000a).
Rau macht darüber hinaus deutlich, dass die traditionelle
Autorfunktion auch auf der Ebene des Paratextes bewahrt
bleibt bzw. zunimmt, da selbst namenlose Zuarbeiten dem
Hauptautor zugeschrieben werden, ganz zu schweigen von der
unterdrückten Autorschaft des Programmentwicklers
(2000, 83ff.). Und es wäre hinzuzufügen, dass
der Autor z.T. sogar noch nach der Online-Publikation des
Textes Macht über diesen besitzt, insofern er
nachträglich und von den Lesern unbemerkt
Veränderungen vornehmen kann. Der Autor erfährt
nicht nur eine Verdopplung, wie Simone Winko im Hinblick auf die
Tätigkeit des Verfassens und Verknüpfens
notiert (1999), sondern eine Verdreifachung, die dann,
darauf weist Uwe Wirth hin, zugleich die Grenze zwischen
Autor und Herausgeber verwischt (Wirth 2001). Wenn
Yellowlees J. Douglas in dieser Hinsicht festhält, dass
Barthes Rede vom Tod des Autors etwas voreilig
erfolgte (2000, 133), spiegelt sich darin noch einmal das
Missverständnis, das oben in Abschnitt 5 erörtert
wurde. Der Autor bleibt natürlich tot im Sinne
Barthes und Foucaults, auch wenn er im Hypertext, wie
sich nun zeigt, weiterin als Instanz die Gestalt des Ganzen
maßgeblich bestimmt.
Was
Ryans anderes Zukunftsversprechen für die Hyperfiction
betrifft, die Minimierung der Linkanzahl, so schließt
sie ganz richtig an: but this is tantamount to saying
that narrativity is incompatible with choice. (2000a)
Damit nähert sie sich der Kritik und Skepsis an bzw.
gegenüber Hyperfiction, wie sie Jürgen Fauth 1995
formulierte: Art, as an artifact, a thing in the
world, is the result of a number of creative choices that
were made to construct it. These choices are the willful,
purposeful expressions of the creative mind. If the artist,
in this case the writer, refrains from making some of these
choices and leaves them up to the reader, his work is not
empowering and democratic, but incomplete. To create also
means to decide what the artefact is not, to rule out
possibilities. By including all possible forms, the work is
deprived of an actual form and remains a hybrid. Die
stärker ad hominem argumentierende Version dieses
Einwands äußert sich dann im Vorwurf,
dass hier eine vorgeblich avantgardistische Literatur
ihren fehlenden Willen zur Form hinter einer radikalen
Theorie verschanze (Daiber 1999).
Um
die kompositorische Verantwortung des Autors
zurückzugewinnen, ohne das Unternehmen Hyperfiction
abzusagen, orientiert Ryan nun auf eine
Multilinearität, die der narrativen Logik nicht in die
Quere kommt: The most efficient structure is a network
that allows the convergence of paths, so that different
branches can share certain elements, and precludes loops, so
the reader will not be lost in a labyrinth. (2000a)
Das Navigationsmodell dafür ist der Flowchart,
in dem die verschiedenen Navigationspfade zwar auf
gemeinsame Knotenpunkte hinauslaufen, untereinander aber
keine Querverweise bestehen sowie keine Möglichkeit,
nach dem einen Pfad die vorher ausgeschlagenen zu betreten
(vgl.die Grafik in: Ryan 2000a, Abschnitt 5 bzw. in Ryan
2001, 252). Dieses Modell zielt weniger auf
Kombinationsvarianten innerhalb des Hypertextes als auf die
Entscheidung für den einen Pfad gegen die anderen.
Zwischen den Schnittpunkten der Pfade aber verläuft die
Lektüre unbehelligt von Absprungsangeboten. Ryans
Begründung für diesen Rückzug aus der
Absprungsrhetorik des Hypertexts führt noch einmal zum
konzeptionellen Problem der Hyperfiction: This is not
to say that labyrinthine texts cannot be artistically
valuable; quite the contrary; but how many of them do we
need? When they visit the carnival of literature, readers
may enjoy one trip in the funhouse, where they will be lost
for a while, but they want a variety of rides! The
anti-narrative and self-reflexive stance of postmodern texts
is an interesting moment in the development of literature,
but in the long run, immersive narrativity is much more
viable, pleasurable, and diversified than
anti-narrativity. (2000a)
Ryans
Erklärung trifft sich mit der in Abschnitt 7 gemachten
Aussage, dass die Desemantisierung durch aleatorische
Textgenerierung und Zertrümmerungsbrowser an sich nur begrenzt von ästhetischem Reiz ist. Die
Erfahrung des Verlorenseins trägt als ästhetisches
Ereignis nicht endlos, wenngleich sie auch gut als
Repräsentation der postmodernen Kondition bzw. des
modernen Lebensgefühls generell verstanden
werden kann. So sieht Murray bereits in Filmen wie Harold
Ramics Groundhog Day (1993, dt: Und täglich
grüßt das Murmeltier) und Büchern wie
Milorad Pavic Dictionary of the Khazars (1988)
den Versuch, to give expression to the
characteristically twentieth-century perception of life as
composed of parallel possibilities. Multiform narrative
attempts to give a simultaneous form to these possibilities,
to allow us to hold in our minds at the same time multiple
contradictory alternatives. (1997, 37f, vgl. 161) Mit
gleicher Stimmlage erklärt Douglas: reading a
narrative in a nearly random order can considerably narrow
the distinction between fiction and life. Whereas fiction
pleases us with its consonances, its patterns and gestalts,
its symmetry and predictability, life can be chaotic and
unpredictable, all sense of orderliness or pattern possible
only at the distance conferred by retrospection after the
passage of years. To encounter fiction outside any
established order is to enjoy a dubious bit of freedom, less
like an aesthetic experience and more like dicing with life
itself. (2000, 126)
Der
Vergleich zwischen Hypertext und wahrem Leben ist
populär auch bei den Kritikern, die daran freilich
keine Ästhetik des Authentischen anschließen,
sondern einfach die Doppelung der Unordnung beklagen:
Hypertext is sometimes said to mimic real life, with
its myriad opportunities and surprising outcomes, but I
already have a life, thank you very much, and it is hard
enough putting that in order without the chore of organizing
someone else's novel. (Miller, 1998)
Gleichwohl stimmt die Analogie in beiden Fällen nicht,
denn anders als im wirklichen Leben fehlt bei der
Hyperfiction gewöhnlich die Irreversibilität der
Entscheidung. Man kann immer wieder zurückgehen, um den
anderen Links zu folgen, und bleibt so Herr aller
Möglichkeiten. Eine lebensechte Hyperfiction
müsste den Zugang zum nichtgewählten Text
versperren und damit die Lektüre nicht nur zur
Begegnung mit Text, sondern zugleich zu einem Verzicht auf
Text werden lassen womit die Situation des Lesers
sich der der Figuren in der Geschichte angleichen
würde, die auch, wie im richtigen Leben, nur die Wege
kennen, die sie gewählt haben.
Das
Argument der Zeitgenossenschaft eines Mediums gab es
übrigens auch bei früheren Etablierungen neuer
ästhetischer Technologien. So beschreibt Walter
Benjamin das dynamische Medium Film als die der gesteigerten
Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben,
entsprechende Kunstform und konstatiert zugleich einen
Trainingswert dieser Kunstform für die persönliche
und gesellschaftliche Lebenspraxis: Das
Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine
Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren. Der
Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des
Apperzeptionsapparates Veränderungen, wie sie im
Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im
Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen
Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt.
(1974, 503) Im Anschluss an eine solche Betrachtung lässt
sich der Hypertext gewiss als das ästhetische Pendant
einer weiteren Stufe der lebensweltlichen Dynamisierung
verstehen, die diesmal den Gang der Dinge nicht nur
beschleunigt, sondern auch zerfasern lässt. Folgt man
Ryans Erklärung, kann dieses allgemeine Gefühl der
Zeitgenossenschaft multilinearer Narration auf Dauer nicht
genügen. Es muss sich mehr mit der Geschichte selbst
verbinden, muss dem konkreten Thema entsprechen. Dafür
bieten gerade Murray und Douglas wiederum Beispiele.
Murray projiziert ein elektronisches
Portrait of Rob's mind on the night of his
suicide mit folgender Semantisierung der Linkstruktur:
Thoughts of going for help could be represented by
false links [
] Perhaps the navigating reader would
feel impelled to return to a good memory or to trace it more
deeply but would find those associations closed off, blocked
by unpleasant thoughts, or too difficult to hold on to.
Perhaps the accounts of good memories would fade quickly
from the screen, or perhaps other, destructive, thoughts
would intrude involuntarily, as represented by images or
scenes that would arise by themselves without any action
from the reader. Loops führen zu a single
act of perception that becomes lodged in the mind, like a
roadblock on the path to hopefulness. [...] The
paths of the mind could change as these simulated last hour
of Robs life progressed, so that thoughts of suicide
would arise more quickly each time regardless of wich paths
the reader followed (1997, 1767f.) Abgesehen vom programmierten Entschwinden positiver Gedanken
würde in dieser Geschichte auch der Kontrast zwischen
dem Hypertext-Konzept der Navigationsalternativen und der
von Rob empfundenen Alternativlosigkeit die Empfindung der
Hoffnungslosigkeit der geschilderten Situation
intensivieren. Ein weiteres Beispiel für den
überzeugenden Einsatz der Hypertextstruktur sieht
Murray in einem Text über Schlaflosigkeit, der
innerhalb ihres Writing Interactive Fiction Seminars
am MIT entstanden war. Dieses auf
exzessiver Verlinkung aufbauende Geschichte is
satisfying because the action of moving by arrows around a
maze mimics the physical tossing and turning and the
repetitive, dead-end thinking of a person unable to
sleep. (82)
Douglas bietet als Autorin einer
Hyperfiction selbst ein Beispiel für die sinnvolle
Form-Inhalt-Kongruenz, nach der sie als Theoretikerin auf
der Suche ist. In ihrer Hyperfiction I
Have Said Nothing
die 1997 in den Kanon der Norton Anthology of
Postmodern American Fiction aufgenommen wurde
versucht der Erzähler, einen Autounfall zu
beschreiben, bei dem er seine Lebenspartnerin verloren hat.
Die Textabbrüche sowie die für Hyperfiction
übliche Drehung der Leser im Kreis der Textsegmente
tragen formal dem Unvermögen Rechnung, die schreckliche
Erfahrung in Worte zu fassen. Insofern ist der Mangel
an linearer Konstruktion ein Gewinn an Aussage, eine
Möglichkeit, wortlos dem poetisch Ausdruck zu geben,
was nicht in Worte gefasst werden kann: It never
worked as a print story: it's too perverse for print, using
thousands of words to arrive at the conclusion that you
can't say anything about death and, moreover, that
everything you've just said is not only contingent on all
sorts of circumstances but is also deeply suspect, perhaps
null. (Douglas 2000a)
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