Hypertext im Diskurs von Philipp
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(2) Auch wenn im Bereich der
Philologien Computer und Internet zunehmend an Bedeutung
gewinnen, läßt sich wahrlich nicht von einem
Siegeszug sprechen. Der traditionell euphorischen
Einschätzung aller Computerbelange durch die
Internetgemeinde steht auf Philologenseite nach wie vor
oftmals eine instinktive Abwehrhaltung gegenüber. Zwar
erkennt man die Vorteile großer Datenbanken, doch die
Kommunikationsmodi, die durch globale Computervernetzung
ermöglicht werden, ob es sich nun um Websites, e-mail
oder Publikationsmöglichkeiten handelt, finden nur
zögerlich Akzeptanz. Zumal in der älteren
Philologengeneration läßt sich beobachten,
daß der Umgang mit dem Computer, wenn überhaupt,
dann häufig aus wissenschaftspolitischen
Erwägungen und Anpassungsbestrebungen, weniger aus
Interesse an der Sache heraus gefördert wird. Daß
die Akzeptanzwerte für neue Technologien statistisch
auch mit dem Alter korrelieren, ist nicht weiter bedenklich;
ist man jedoch als Nachwuchswissenschaftler im Zusammenhang
der Konferenz in Debrecen vor die Aufgabe gestellt, etwas zu
Strukturen und Kommunikationsangeboten des Internet zu
sagen, muß man sich fragen, welche
Schlüsselkompetenzen man vor dem Hintergrund der
eigenen Ausbildung überhaupt in die Diskussion
einbringen kann. Das auf dem Bildungsweg
vermittelte exklusive Interesse am literarischen Text im
Medium Buch, gepaart mit elaborierten Methoden, die
ästhetischen, mimetischen und argumentativen Potentiale
sprachlicher Strukturen freizulegen, lenkt die
Aufmerksamkeit zunächst nur auf das Genre literarischer
Hypertexte. Dieser zugegeben randständige
Untersuchungsgegenstand fordert einerseits Kompetenz bei der
Textanalyse und bietet andererseits die Chance, den
Werkzeugkasten des Philologen mit Blick auf
computertechnologische Neuerungen der Textproduktion zu
erweitern. Sein Wert als Analogon zum Internet steht
allerdings dahin, und jede Übertragung von
Erkenntnissen zu Hypertexten auf die Gesamtheit
computertechnischer Kommunikationsformen müßte
zweifellos über weite Strecken ungedeckt bleiben.
Dennoch kann es nicht schaden, den folgenden Text über
literarische Hypertexte auch einmal so zu lesen, als seien
die Strukturen des Internets insgeheim immer
mitgemeint. In meiner Auseinandersetzung
mit dem Genre Hypertext bin ich vordringlich an einer Kritik
der gängigen Diskurse über literarische Hypertexte
interessiert. Der "Hype"(1)
zum Hypertext, also enthusiastische Elogen und
Programmatiken, soll gegen das Spektrum bereits realisierter
Nutzungsmöglichkeiten abgegrenzt werden. Es geht um die
Diskrepanz zwischen den Funktionen, die das Verfassen
literarischer Hypertexte als kulturelle Praxis hat, und den
Diskursen und Denkgewohnheiten, die für sich
reklamieren, Bestimmung und Wesen von Hypertext
erklären zu können. Diese Diskurse und
Denkgewohnheiten manifestieren sich zuerst überaus
direkt in den Hypertexten selbst, denn es ist ein
Charakteristikum des Genres, daß es seine
metafiktionale Thematisierung gleich mitliefert. Hypertexte sind fast immer
auch selbstreferentiell angelegt, d.h. sie thematisieren
streckenweise die eigene Genese, problematisieren ihre
Relevanz, prognostizieren den rezeptionsseitigen
Leseprozeß usw. Damit schließen sie einerseits
poetologisch an Paradigmen der literarischen Postmoderne an.
Von Italo Calvino bis Thomas Pynchon, von Thomas Bernhard
bis Donald Barthelme reicht die Liste selbstreflexiver
Autoren im Medium Buch, deren Einfluß auf Hypertexte
hier und da nur zu deutlich auszumachen ist. Andererseits
gründet die Selbstreferentialität auch in der
Sache, denn die Möglichkeit, literarisches Schreiben
und Computertechnologie synthesehaft zusammenzubringen, ist
so neu, daß sie als kulturelle Praxis, markttechnisch
und institutionell erst einmal verankert werden muß.
Bei diesem Prozeß ergeben sich fast zwangsläufig
zirkuläre Strukturen, die den Autor auf Probleme des
Mediums zurückwerfen, den Text zur Rechtfertigung
seiner selbst werden lassen, institutionell die Instanzen
von Rezipient und Produzent zusammenschließen oder
rezeptionsseitig den Leser zur Metareflexion über
Strukturen statt über Inhalte des Textes drängen.
Der letzte Fall läßt sich durch ein
Selbstexperiment leicht veranschaulichen. Wenn man noch kein
geübter Hypertextleser ist - und wer könnte das
von sich behaupten? -, erlebt man als dominierende
Lektüreerfahrung stets ein Gefühl der
Desorientierung im Text. Im Bemühen, bei der
Lektüre Halt zu finden, und das heißt
insbesondere: im Bemühen, die eigenen
Erwartungshaltungen an den Text anzupassen, horcht man als
Leser bald unwillkürlich gerade an denjenigen Stellen
auf, die sich poetologischer Reflexion widmen. Umgekehrt ist
auch den Texten und den Autoren meist deutlich anzumerken,
daß sie im Bewußtsein, auf unbekanntem
Territorium zu agieren, weitgehend im Gefühl des
"exploring hypertext" aufgehen und entsprechend disponiert
sind, gedanklich um ihr Medium zu kreisen. Zumindest im
amerikanischen Rahmen fällt zudem auf, daß die
Entwickler von Hypertextsoftware und die Theoretiker und
Praktiker der Hypertextschreibweisen oft personell ineins
fallen. Nicht von ungefähr gehen dann die Aspekte der
Programmierung, der kultur- und medientheoretischen
Reflexion und der literarischen Produktion fließend
ineinander über. So zeichnet der Autor Michael Joyce
auch als Mitentwickler der Hypertext-Entwicklungssoftware
Storyspace verantwortlich, Mark Amerika kommentiert sein
Grammatron-Projekt selbst, Stuart Moulthrop, allgemein
angesehener Autor des Hypertextes Victory Garden
(2),
ist Professor an der School of Communications Design,
University of Baltimore, usw. Insbesondere ist auch auf die
Firma Eastgate Systems zu verweisen, deren
äußerst produktiver Insider-Zirkel an anderer
Stelle von Thomas Swiss genau analysiert worden
ist.(3) Fragt man nun nach der
Differenz zwischen "Hype" in Form von metafiktionalen,
essayistischen und ggf. auch programmiertechnischen
Kommentaren zum Medium Hypertext und realisierten Nutzungen,
dann fällt zunächst ins Auge, daß Hypertext
wie auch andere neue Medien immer wieder zum Projektionsraum
für Utopien und Antiutopien gemacht wird. Dieser
Mechanismus ist nicht weiter verwunderlich, begünstigt
die enge Nachbarschaft von Utopos und unbekanntem Terrain
doch derlei Gedankensprünge. Im einzelnen sehe ich drei
Komplexe. Die politische Utopie
von der basisdemokratischen Ausrichtung des Internets, die
in der Partizipation des Konsumenten am
Produktionsprozeß die Einlösung der Hoffnungen
auf letztgültige Egalität innerhalb der
Gesellschaft sieht, findet auch im Rahmen der
Hypertextdebatte ihre Entsprechung: Michael Joyces bekannte
Unterscheidung zwischen erkundenden ("explorativen") und
konstruktiven Hypertexten(4)
macht mit dem zweiten Fall, dem des offenen, von allen
Lesern erweiterbaren Textes, die Hoffnung auf eine Literatur
deutlich, die Klassen-, Geschlechts-,
Bildungsgegensätze usw. aufhebt. Zweitens ist die
Hypertext-Gemeinde immer bestrebt gewesen, eine
semiotische Utopie an das Genre anzuschließen.
Die Dekonstruktion soll im vielschichtig verwobenen Text zu
sich selbst kommen; es wird eine neue Qualität von
Zeichenbewegungen behauptet, die vom Zeichenbenutzer nicht
zum Abschluß gebracht werden kann, sondern notwendig
offen bleibt: Jede Fixierung von Sinn werde gleich wieder
subvertiert. Schließlich wird die
neue Technologie des Hypertextes für eine
geistesgeschichtliche Utopie vereinnahmt. In einem
mediendeterministischen Diskurs, der seine Vordenker in
Walter Ong, Marshall McLuhan und anderen hat, wird das
Paradigma des westlichen, aufklärerischen Denkens (etwa
mit den Grundlinien Individualisierung,
Zweckrationalität, Kapitalismus, Nationalismus und
Industrialisierung) ursächlich auf das Medium Buch
zurückgeführt; die Ablösung des Buchdrucks
als Leitmedium soll dann von einem Terror des gedruckten
Wortes, von den ganzen Unbilden einer "Gutenberg-Galaxis",
befreien. Nun ist einzuräumen,
daß derlei Idealisierungen mittlerweile durchaus
gesehen und kritisiert werden.(5)
Man weiß: Hypertextstrukturen bis hin zum Internet
bringen neue Hierarchien hervor, auch komplexe
Sinnstrukturen lassen sich dogmatisch vereinnahmen.
Schließlich setzt sich die Einsicht der Soziologie
durch, daß die Nutzung eines Mediums durchaus nicht
von seiner Beschaffenheit determiniert sein muß. Eine
kritische Problematisierung dessen, welche
Vorstrukturierungen historischer Wahrnehmung die empirisch
existierenden Hypertexte zu leisten imstande sind, welche
Varianten eines westlichen "Repräsentationsystems", um
mit Stephen Greenblatt zu sprechen,(6)
sich im Rahmen der Computertechnologie neu formieren und
welche Inhalte dabei unbemerkt im Sinne einer
unhinterfragten Basismetaphorik mittransportiert werden,
bleibt dagegen noch weitgehend zu leisten. Einige Bausteine
dafür möchte ich hier zusammentragen.
(1)
Dem Collins English Dictionary von 1981 zufolge bezeichnet
das Wort "hype" "a deception, racket, or publicity stunt".
Im besonderen werden heutzutage die allermeisten Produkte
der Unterhaltungsindustrie mit aggressiven,
öffentlichkeitswirksamen Werbemaßnahmen
eingeführt, die eben ein solches "hype" in die Welt
setzen, das sich wenig um Wahrheitstreue und solide
Information schert. (2)
Dieser Text wird von Eastgate Systems, Cambridge, Mass.,
gewerblich vertrieben. Vgl.
http://www.eastgate.com. (3)
Vgl. dazu auch Thomas Swiss, "Music and Noise: Marketing
Hypertexts", in Postmodern Culture 7 (1), 1996.
(http://jefferson.village.virginia.edu/pmc/text-only/issue.996/review-4.996) (4)
Vgl. Rainer Kuhlen, Hypertext. Ein nicht-lineares Medium
zwischen Buch und Wissensbank, Berlin: Springer 1991, S.
46f. (5)
Vgl. dazu beispielsweise die "Zusammenfassende[n]
Thesen" im Band Datenreisende. Die Kultur der
Computernetze, hrsg. von Thomas A. Wetzstein u.a.,
Opladen: Westdeutscher Verlag, 1995, S. 295-303. (6)
Stephen Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. Die
Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, üs.
von Robin Cackett, Berlin: Wagenbach 1998, S. 39.
Kritische Ergänzungen zur Diskussion um das Genre
literarischer Hypertexte
und zur Art und Weise, in der sie ihren Gegenstand
formt*
*Der
Beitrag ist zuvor erschienen in TRANS.
Internet-Zeitschrift für
Kulturwissenschaften,
Nr. 6.