Dieses
Wechselspiel wird vor allem im Zusammenspiel von Wort und
Bild immer stärker an Gewicht gewinnen. Ich teile die
Position Marie-Laure Ryans, für welche die nächste
Generation digitaler Literatur in gleichem Masse vom Design
der Bilder, Töne, Animationen wie von jener des Textes
abhängen wird.
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An dieser Stelle fällt
zwangsläufig das Stichwort
Multimedialität/Intermedialität. Neben der
Hypertextualität sehe ich hier das machtvollste
Instrument digitaler Literatur, jenen informationellen
Mehrwert im Hinblick auf Buchliteratur, der diesen Namen
verdient. Multimedialität: Es scheint auf den ersten
Blick jedem einzuleuchten, was gemeint ist und wie es
funktioniert. In den Computer lassen sich mehrere
Sinneskanäle integrieren. Riech-, Tast und
Temperatursinn bleiben jedoch auf absehbare Zeit
ausgeschlossen, wie der Wissenschaftsjournalist Dieter E.
Zimmer zurecht lakonisch vermerkt.
Die Integration von Text,
Ton und Bild ist jedoch mittlerweile vollzogen, und diese
Integration hat aufgrund verbesserter Software ihre
frustrierende Ungelenkigkeit inzwischen verloren. Der Grund
liegt in der professionalisierten Multimedialisierung des
Webs durch ein Werkzeug wie etwa die Animationssoftware
Flash 5, welche die digitalen Bilder ohne
ennervierende, endlose Wartezeiten laufen lehrt. Für
diese Professionalisierung sprechen weiterhin verbesserte
Kompressionsverfahren (Tiff, JPEG, MPEG), welche indizierte
Bilddateien so klein wie möglich halten und die Bilder
ohne Verlust an Farbtiefe auf dem Schirm reproduzieren.
Wie immer hat die Medaille
auch in puncto technischer Innovation zwei Seiten. Die
Rückseite besteht darin, dass die forcierte Animation
den Text zu erdrücken droht und statt Lektüre nur
noch ein Klickibunti Spektakel stattfindet, wie
es etwa Beat
Suter herannahen
sieht. Hyperfiction wäre dann mehr Film als Literatur,
mehr Bildbetrachtung als Wortrezeption, mehr Ästhetik
des Events als Ästhetik des Worts.
Ich sehe diese Gefahr, teile
die Bedenken, neige jedoch eher dazu, die Chancen der neuen
Technologie zu betonen. Betrachtet man das angesprochene
Problem aus der Perspektive der Literaturwissenschaft,
erkennt man, dass es uralt ist. Der Geist wird durch
das Ohr langsamer erregt als durch das Auge
resümierte Horaz schon in seiner Ars poetica, wo
er die Wirkung einer rein sprachlichen Erzählung mit
der Wirkung des Theaters vergleicht. Prediger aller
Weltanschauungen wussten schon lange vor jedem Marketing,
dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte. Der Grund: Es
zielt unmittelbarer auf unsere Affekte, auf das, was die
Linguisten als Appellfunktion jedes kommunikativen Akts
bezeichnen, als dies die Sprache tut. Deren wichtigste
Funktion liegt in der Ausdrucks- und
Darstellungsfunktion.[12]
Hinzukommt, dass unser visuelles Gedächtnis weit
dauerhafter als unsere Erinnerung an Texte ist. Aus diesem
Grund vergessen wir eher einen Namen als das zu ihm
gehörige Gesicht. Wir erinnern, dass ein Zitat in der
oberen linken Ecke einer Seite positioniert war, selbst wenn
wir den Wortlaut des Zitats nicht mehr kennen. Dies
führte in der Geschichte der Mnemotechnik zum Bau
sogenannter Erinnerungspaläste, mental konstruierte
Räume, in deren visualisierten Zimmern abstraktes
Wissen deponiert
wurde.[13]
Nun funktioniert der simple
Dualismus Bild = Emotion, Affekt, intakte Erinnerung | Wort
= rationaler Diskurs, Abstraktion, schnelles Vergessen
längst nicht in dieser schematischen Absolutheit.
Gerade die Metaphorik der Poesie hat laut Aristoteles die
Funktion, abstrakte Begriffe mittels Übertragung in
sprachliche Bilder zu kleiden. Mit anderen Worten: Auch
Sprache lebt von Bildern. Dies bestätigt uns die
moderne Neurophysiologie, welche betont, dass unser Gehirn
ein parallelverarbeitendes System bildet, in welchem Bild-
und Textverarbeitung nebeneinander, nicht nacheinander
vonstatten geht. Wir denken, wenn wir fühlen und vice
versa.[14]
Ebenso wenig leuchtet jener
Versuch ein, eine Ehrenrettung des Wortes über eine
Abwertung der Visualität zu erreichen. Auch dieser
Diskurs in der Literaturwissenschaft ist uralt. Er findet
einen Höhepunkt in Lessings berühmter
LaokoonStudie. Das Bild so Lessing
könne nur einen einzigen festgefrorenen
Augenblick bewahren. Bilder eignen sich nach Lessing daher
ausschließlich zur Wiedergabe dessen, was im
Nebeneinander des Raumes gegeben und räumlich erfahrbar
ist. Da das Bild nur den einzigen Augenblick abzubilden
vermag, verfällt Lessing in Anlehnung an Winckelmann
auf die interessante Forderung, dass dieser Augenblick nicht
hässlich sein dürfe. Sprache dagegen vermag
zeitliche Abläufe darzustellen, sie bildet Handlungen
ab, einzelne Aktionssequenzen innerhalb der Zeit, die
aufeinander bezogen sind. Die These funktioniert
ausnahmsweise auch als Umkehrschluss: Da das Bild
ausschließlich in der Sphäre des Raums operiert,
sind alle Darstellungen des Sich-Veränderns in der Zeit
verschlossen. Ebenso ist im Gegenzug dem Wort der Weg ins
Räumliche versperrt. Es verlangt nach Abfolge,
Kausalität, Linearität, nicht nach
Simultaneität. Dies ist natürlich so nicht
haltbar. Logisch betrachtet führt die Idee, dass es
einen Moment geben könnte, in dem keine Bewegung
stattfindet, zu den Paradoxien Zenons, bei welchem Achill
einen Wettlauf mit einer Schildkröte verliert oder ein
Pfeil während des Fluges
stillsteht.[15]
Die Auflösung der Paradoxien besagt: Selbst die
kürzeste Momentaufnahme hält Bewegungsspuren fest,
es existiert kein Augenblick außerhalb der Zeit. Die
von Lessing aufgestellte Dichotomie von Raum und Zeit
erweist sich zudem als endgültig obsolet angesichts der
Entdeckungen von Photographie, Film, Video und Computer.
Weshalb überhaupt Bild
und Wort gegeneinander ausspielen? Weshalb Oppositionen
betonen und nicht kreative Koexistenzen? Ut pictura poesis
wie ein Bild sei das Gedicht, dieses von der
Renaissance missgedeutete Zitat aus Horaz Ars
poetica führte zum Mimesis-Prinzip und der bis ins
18. Jahrhundert erhobenen programmtischen Forderung einer
Dichtkunst, welche die Wirklichkeit naturgetreu,
ähnlich einem Bilde darzustellen habe. Ut pictura
poesis meint jedoch einen anderen Zusammenhang, eine
tieferliegende Korrespondenz zwischen Wort und Bild. Diese
tiefere Korrespondenz so meine These bildet
die Basis jeglicher Multimedialität. Und letztlich
könnte eine Besinnung auf die Wurzeln dieses
Zusammenhangs die Literatur der Zukunft prägen. Denn
Hyperfictions sind von ihren technischen
Voraussetzungen her erstmals in Geschichte der
Literatur in der Lage, diese Korrespondenzen von Wort und
Bild in weitem Umfange zu nutzen.
Von welchen Korrespondenzen
spreche ich? Betrachten wir in diesem Zusammenhang die
Emblematik des Barock. Nicht zufällig nimmt die
Geschichte
der kombinatorischen
Dichtung hier bei
den Poetikmaschinen des Barock ihren Anfang. Berühmt
geworden sind Georg Philipp Harsdörffers Poetischer
Trichter (1648-63) und Quirinus Kuhlmanns Libes-Kuss
(1671), der einem Wechselspiel von 50 Wörtern in vier
Versen die Alternativenzahl von 3,4 x 10 hoch 17 berechnet
(das ergibt eine 77stellige
Zahl).[16]
Ein Emblem ist bekanntlich
dreiteilig aufgebaut. Es verfügt über ein Bild,
die pictura (auch Icon, Imago oder Symbolon) genannt.
Über diesem Bild erscheint in der Regel eine
kurzgefasste Überschrift, die sogenannte Inscriptio.
Die Inscriptio gibt so etwas wie eine aus dem Bilde
abgeleitete Devise an, eine knappe Sentenz, eine
sprichworthafte Feststellung oder ein lakonisches Postulat
als Reflex auf das Abgebildete. Unter dem Bild steht
schließlich die subscriptio, die das im Bilde
Dargestellte erklärt und auslegt und aus dieser
Bilddeutung häufig eine allgemeine Lebensweisheit oder
Verhaltensregel, zumeist in Form eines Epigramms zieht.
Entscheidend für meine
Überlegungen ist nun Folgendes: Inscriptio und
Subscriptio sollen so etwas wie eine Rätsellösung
des im Bilde Dargestellten mittels des Mediums der Sprache
leisten. Abbildung und Auslegung, Darstellung und Deutung
des Dargestellten mittels Sprache dies ist der Kern
barocker Emblematik. Dem Bilde wohnte mit anderen Worten
neben seiner reinen Darstellungsfunktion ein
rätselhafter, enigmatischer Charakter inne, welche eine
Deutung durch das Wort verlangte.
Nicht alle barocken Embleme
sind dem Wirklichkeitscharakter des im emblematischen Bilde
Dargestellten zugeordnet, den etwa Sulzer und Reimann
betonen. Die Pictura ist also keineswegs immer ganz
aus der Natur gewonnen und in ihrer Darstellung einer
potentiellen Faktizität verpflichtet. Das Bild
bedeutet, pointiert gesagt, immer mehr, als es zeigt. Die
interessantesten Darstellungen emblematischer Picturae
stellen rätselhafte, geheimnisvolle Zeichen dar, die
der Deutung durch das Wort dringend bedürfen.
Chimären, Zentauren, weibliche Gestalten ohne Kopfe,
enigmatische Darstellungen historischer, mythologischer oder
biblischer Figuren, die in seltsame Bildumfelder
hineinversetzt werden.