Den Thesen zufolge, die das
Rundgespräch Künstlerische
Gestaltungsmöglichkeiten von Hyperfiction und
Hypermedia
einleiteten, ist erstens das Verschwinden des Autors ein
angebliches, schlägt zweitens der
ermächtigte Leser die nicht erbetene Freiheit der
Koautorschaft selbstbewusst aus und laufen drittens die
Intellektuellen, viel zu spät gestartet, den neuen
künstlerischen Ausdrucksformen (hoffnungslos)
hinterher.
Die Skepsis und Kritik, die
man dem Duktus entnehmen kann, ist durchaus angebracht und
trifft einige in der Debatte zur Netzliteratur oft
unterschlagene Nägel auf den Kopf. Die Thesen und
Anmerkungen, die der Eröffnung folgten, führen
direkt in die Diskussion und sind mir Anlass, meinerseits
einige Überlegungen zum Gegenstand anzustellen. Es geht
dabei um
- die Bestimmung von
Begriff
und
- Merkmalen
des Gegenstandes,
- um Tod und Leben des
Autors
und
- um Tendenzen der
digitalen
Ästhetik
Wenn Johannes Auer in seinem
Statement
die selbst aufgestellte These, Netzliteratur dürfe nur
im Netz und nicht auch auf einem anderen digitalen
Datenträger möglich sein, falsifiziert, begibt er
sich mitten ins Definitionsdilemma, das nicht nur die
Mailingliste Netzliteratur
seit Jahren umtreibt, sondern auch die Teilnehmer und
Juroren mancher Wettbewerbe für Netzliteratur im
Unklaren lässt, welche Beiträge auf das Stichwort
eigentlich passen.
Auer unternimmt die
notwendige Unterscheidung zwischen elektronischem
Text ("traditioneller, druckbarer Fließtext", der
das Netz als Distributionsmittel nutzt), digitalem
Text ("Literatur, die den Computer genuin
ästhetisch nutzt, allerdings auf lokale
Datenträger speicherbar ist") und Netzliteratur
("gekennzeichnet durch das Computernetz als ästhetische
Bedingung und einzige Existenzmöglichkeit"). Diese
Differenzierung geht allerdings wieder verloren, wenn dann
digitale Literatur mit Netzliteratur gleichgesetzt wird
für den Fall, dass sie die Möglichkeiten der
Browsersoftware ästhetisch nutzt (Auer nennt
Berkenhegers Hilfe
als Beispiel). Zwar stimmt es, dass Browser das Internet
für uns visualisieren, aber sie sind keine exklusive
Technologie des Netzes, sondern des HTML (Berkenhegers
"Hilfe" kann sehr gut auch auf lokalen Datenträgern
gespeichert und offline rezipiert werden). Will man an der
Unterscheidung zwischen digitaler und Netzliteratur
festhalten, kann die für beide Bereiche zu
veranschlagende Browserästhetik also nicht als Argument
ins Feld geführt werden.
Genuin >netzig< sind
dagegen kollaborative Projekte, die das Internet als
Produktions- und Rezeptionsort benötigen. Hier
müssen freilich definitorische Sicherungen eingebaut
werden, damit das Merkmal nicht zur Beliebigkeit verkommt.
Wenn, wie Auer vorschlägt, ein in einer Mailingliste
oder auf einer Webpage zur Diskussion gestelltes "work in
progress" durch den netztypischen Kommunikationszusammenhang
schon zu Netzliteratur wird, dann sind es freilich auch
Thomas Hettches "Null" oder "Abfall für alle" von
Reinald Götz. Diskussionsforum und Mailinglist sind
mittlerweile Grundausstattung fast aller Projekte im Netz
und besagen zunächst nicht viel.
Die kollaborative Erstellung
eines Werkes im Sinne einer greifbaren Autorengemeinschaft
hingegen, sei dies ein linearer Text wie Beim
Bäcker oder ein
multilinearer wie Die
Säulen von Llacaan,
ist in der Tat netzspezifisch und ist um dem zuweilen
gehörten Einwand gleich zuvorzukommen schon
deswegen nicht mit Mail-Art gleichzusetzen, weil Teilnahme,
Adressierung und Tempo hier den ganz anderen Regeln des
Netzes unterliegen. Mit dieser Perspektive ist man auch
besser für Argumentationen gerüstet, wenn
Mitschreibprojekte dann doch als Buch vorgelegt werden.
Nicht die mögliche Existenz des Endprodukts in
Buchform, sondern die Notwendigkeit des Entstehens im Netz
ist entscheidend. Das aus einer geschlossenen
Gesellschaft bestehende "Null" hat da freilich weniger
Chancen, als Netzliteratur zu firmieren, als eine
Printversion des in einem offenen Prozess durch die
Netzgemeinde geschaffenen "Beim Bäcker" (zur Entstehung
dieses Projekt vgl. das Interview
mit der Moderatorin in "dichtung-digital"). Allerdings hat
"Null" gerade deswegen größere Chancen, wenn es
um Qualität und mediale Aufmerksamkeit geht. Dies ist
freilich ein anderer Aspekt, dem hier, wo es nicht um die
Gesetze des (digitalen) literarischen Feldes geht, sondern
um die begriffliche Bestimmung dessen, was unter
Netzliteratur oder Hypertext zu verstehen ist, nicht weiter
nachgegangen sei.
Damit bin ich beim zweiten
terminologischen Problem: Hypertext. Dieser von
Nelson geerbte Begriff ("By Hypertext I simply mean
non-sequential writing; a body of written or pictoral
material interconnected in such a complex way that it could
not be presented or represented on paper. Hypertext is the
generic term for any text, which cannot be printed.") ist
schon von Espen Aarseth seiner Ungenauigkeit wegen
problematisiert worden. In seinem Buch "Cybertext:
Perspectives on Ergodic Literature" (1996) erinnert er zum
einen an all die Hypertexte, die es auf Papier gibt (Raymond
Queneaus Cent mille milliards de poèmes ist
ein berühtmes Beispiel, Marc Saportas Composition No
1 ein anderes), zum anderen wandte er sich dagegen,
jeden elektronischen Text Hypertext zu nennen. Selbst
für den auf Kombinatorik beruhenden elektronischen Text
lässt er Hypertext nicht als Dachbegriff gelten,
sondern schlägt Cybertext vor ("for texts that involve
calculation in their production of scriptons"), während
Hypertext auf das Node-Link-Modell beschränkt
wird.
Aarseths Reformversuch
setzte sich nicht durch. Der alte Begriff war zu etabliert
und wurde statt auf eine Teilfunktion reduziert
als Dachbegriff selbst angesichts der
Multimedialisierung des Digitalen gerettet; Aarseths selbst
problematisierte den Begriff Cybertext später als
ideologisches Konstrukt (vgl. Interview
in "dichtung-digital"). Hypertext wird in der amerikanischen
Diskussion heute synonym zum Begriff Hypermedia
verwandt und letzterem aus Loyalität zu alten
Begriffsprägungen oft vorgezogen. Wird mittlerweile mit
dem Begriff Hypertext ein modernes, auch Bild und Ton
einschließendes Textverständnis verbunden, so
bleibt das damit Bezeichnete durch das Präfix doch
weiterhin klar auf eine wie auch immer geartete
Nonsequentialität bzw. Kombinatorik
verwiesen.
Dass dies aber nur einem
bestimmten Bereich digitaler Literatur gerecht wird und in
sich nicht unproblematisch ist, führt Jürgen
Daibers Statement
vor Augen. Gegen die Apotheosen der Netz-Puristen auf den
zerstückelten Text verweist er auf das menschliche
Grundbedürfnis nach einem geordneten Erzählen (und
spätestens seit Hayden Whites "The Content of Form"
weiss man um die Geltungsweite dieses Wahrnehmungsmodus).
Wenn Daiber gerade in der bewahrten Linearität (als
bewahrter Narrativität) die Zukunft der digitalen
Literatur sieht, markiert diese Haltung gewissermaßen
ein Umschwenken von der Revolte zur Reform: Gegen die
Forderung nach Nonsequentialität und Kooperation wird
auf das anthropologische Bedürfnis nach einem bewusst
und gezielt organisierten Erzählen
verwiesen.
Eine Haltung, die sich
übrigens verstärkt auch im amerikanischen Diskurs
findet, wie etwa bei Marie-Laure Ryan, die der Hyperfiction
bei Nichtbeachtung der traditionellen Erzählgesetze
eine Rolle in der Geschichte der Literatur prognostiziert,
wie sie die Zwölftontechnik in der Musik spielt (vgl.
Interview
in "dichtung-digital"). In ihrem für Ende 2000
geplantem Buch "Narrative as Virtual Reality: Immersion and
Interactivity in Literature and Electronic Media" (Johns
Hopkins University Press) untersucht sie die narrativen
Konzepte in digitalen Medien und wirbt wie Daiber für
einen Spagat zwischen Nonsequentialität und
erzählerischer Gestaltung bzw., wie sie es
ausdrückt, zwischen Immersion und Interaktivität
(vgl. Vorabdruck Chapter
8 in
"dichtung-digital").
Die Problematisierung der
>traditionellen< Hauptaspekte digitalen Erzählens
Nonsequentialität und Kollaboration
führt folgerichtig zur Akzentuierung anderer, nicht
minder an die digitalen Medien gebundener ästhetischer
Ausdrucksformen. Ryan etwa postuliert: "The next generation
of hypertexts will have to be visually pleasurable"
(Interview
in "dichtung-digital"), und Daiber legt mit seinem
preisgekrönten Trost
der Bilder ein Werk
vor, das weder >netzig< noch hypertextuell ist und
trotzdem die genuinen Möglichkeiten der digitalen
Medien nutzt.
In der Kurzgeschichte "Die
Schaufensterpuppe" zeigt Daiber eindrucksvoll, wie schon ein
Refresh-Tag dem Text eine tiefere Bedeutung geben kann, die
so außerhalb der digitalen Medien nicht zu realisieren
wäre (vgl. Besprechung
in "dichtung-digital"). Intermedialität paart sich hier
mit Temporalität bzw. mit der Tiefenstruktur des
digitalen Bildes (im erwähnten Fall handelt es sich
um eine bildextern, nämlich im Quelltext plazierte
Bildeigenschaft), bei völliger Wahrung des linearen
Erzählgestus.
Ist somit deutlich geworden,
zu welchen Problemen der unreflektierte Einsatz
populärer Begriffe wie Netzliteratur und Hypertext mit
ihren Akzenten auf Nonsequentialität bzw.
netzspezifische Interaktion führen, so ist zu fragen,
wie denn nun der Gegenstand, von dem die Rede ist,
bezeichnet werden soll und welche Merkmale ihn kennzeichnen.
Zuvor wäre allerdings zu fragen, ob ein umfassender
Definitionsversuch überhaupt gerechtfertigt ist. Espen
Aarseth gibt in Cybertext zu bedenken:
It is dangerous to
construct general theories about hyperliterature. Instead
we must look at each system as a potentially different
technical medium, with aesthetically distinct
consequences.
Dieser Einwand der
Nichtvergleichbarkeit und Nichtsubsumierbarkeit argumentiert
nicht im Paradigma des theoriegeschichtlich gut bekannten
Kults des Originals, sondern aus der Einsicht in die
unterschiedlichen technischen Voraussetzungen der Werke. So
richtig diese Perspektive prinzipiell auch ist, so
problematisch wird sie, wenn daraus tatsächlich
Typologiesierungsverbote abgeleitet werden, denn es lassen
sich durchaus bestimmte Merkmale herausfiltern, mit denen
die einzelnen Phänomene beschrieben und gruppiert
werden können. Vor der Aufzählung einiger Merkmale
zunächst der Vorschlag eines geeigneten
Dachbegriffs.
Ich habe oben mitunter von
digitaler Literatur gesprochen und damit diesen
gelegentlich zu hörenden Terminus (vergleichbar ist
"elektronische Literatur") bereits als Dachbegriff ins Spiel
gebracht. Der Vorteil dieses Begriffs liegt darin, dass er
die Existenzvoraussetzung zum Hauptkriterium macht
und nicht den Existenzort oder die Struktur,
wie im Falle Netzliteratur und Hypertext. Er
ist dadurch weit genug, um die verschiedenen
ästhetischen Ausdrucksformen der digitalen Medien
aufzunehmen. Allerdings muss durch eine Zusatzbestimmung die
Abgrenzung zu jenen oben erwähnten Texten ("Null",
"Abfall für alle") geregelt werden, die zwar auch
digital vorliegen, aus verständlichen Gründen aber
von dem unterschieden werden sollen, wovon hier unter dem
Begriff digitale Literatur die Rede ist.
Dieser Zusatz läge in
der Medienechtheit: Die digitale Existenzform
muss eine notwendige sein, ohne die die spezifischen
ästhetischen Eigenschaften des Werkes nicht realisiert
werden können. Die Bedingung der Notwendigkeit bezieht
sich dabei (Zusatzbestimmung zur Zusatzbestimmung)
alllerdings ganz klar auf die ästhetische Seite des
Mediums, nicht auf die distributive, denn auf der Ebene der
Distribution wäre die Notwendigkeit der Existenz in den
digitalen Medien aus naheliegenden Gründen (etwa die
Umgehung des etablierten Kunst- bzw. Literaturmarktes) immer
zu belegen.
Wie aber bezeugt sich die
ästhetisch bestimmte Existenznotwendigkeit? Ich sehe
folgende vier grundsätzliche Merkmale und gebe zugleich
einige Beispiele zur Veranschaulichung:
- Kombinatorik
Bsp.: Zeit
für die Bombe
als klassischer Hypertext, aber auch Die
Aaleskorte,
Der
Assoziationsblaster
und das Mitschreibprojekt Snowfields,
das die zugelieferten Texte durch Kombination
verfremdet
- Interaktivität
offline: reaktive Form, zwischen Mensch und
Maschine/Programm, im Werk vorprogrammiert, nicht
netzgebunden (gleichwohl im Netz anzutreffen) Bsp.:
Die
Aaleskorte, Auers
'Killpoem'
online: interaktive Form, zwischen Mensch und
Mensch via Maschine/Programm, netzgebunden, Bsp.:
Beim
Bäcker,
Der
Assoziationsblaster,
MUDs
- Intermedialität
mediale Grenzüberschreitungen und
Interdependenzen, Bsp.: Digital
Troja,
Trost
der Bilder,
Grammatron
- Inszenierung
dem Werk bzw. Werkteilen sind durch konditionale
Programmierung Aspekte der Aufführung
eingeschrieben; die werkinhärente Performance
bestimmt den Rezeptionsprozess des Lesers (im Gegensatz
zur freien Navigation, bei der der Rezeptionsprozess des
Lesers den Auftritt des Werkes bestimmt), Bsp.:
Das
Epos der Maschine,
23:40
sowie der Anfang von Zeit
für die Bombe,
Hegirascope
und Grammatron
Diese Merkmale wären zu
diskutieren, zu vervollständigen oder zu verwerfen.
Binnendifferenzierungen sind notwendig (nicht nur im weiten
Feld der Kombinatorik), Querverbindungen sind zu analysieren
(Inszenierungsapekte verbinden sich z.B. oft mit
Interaktivitätsaufforderungen, so offline im "Epos der
Maschine" und online in "23:40"), Abgrenzungen sind zu
betonen (Kombinatorik ist per se immer auch interaktiv,
rechtfertigt durch den spezifischen Fokus aber eine eigene
Gruppe).
Die hier vorgeschlagene
Definition läuft auf eine Merkmalsalternativität
auf der Grundlage eines unabdingbaren Merkmals hinaus
und lautet:
Digitale
Literatur sind künstlerische Ausdrucksformen, die
der digitalen Medien als Existenzgrundlage bedürfen,
weil sie sich durch mindestens eines der oben
angeführten Merkmale auszeichnen.
Indem digitale Literatur auf
diese Weise bestimmt wird, steht man bereits vor einem
weiteren Problem: Inwiefern kann angesichts der
Intermedialität Literatur überhaupt als
Bezugsbegriff aufrechterhalten werden?
Wenn Richard Ziegfeld 1989
in seinem einschlägigen Aufsatz Interactive Fiction:
A New Literary Genre? (New Literary History. A Journal
of Theory and Interpretation, 20/2) den Literaturbegriff
noch mit dem Hinweis auf die Proportionalität des
Wortes gegenüber der des Images begründen kann, so
ist die Frage inzwischen, da Interaktivität zunehmend
in Verbindung mit Intermedialität stattfindet, neu zu
diskutieren. Kann die Begriffsbestimmung noch medienintern
erfolgen, wenn der Gegenstand sich längst transmedial
verhält? Die Entwicklung der Technologie drängt
hier zunehmend auf eine Begriffsbildung, die diesem Umstand
entspricht. Unklar ist, ob der adäquate Begriff durch
Neubildung oder Ausdifferenzierung gefunden werden
soll.
Ein aussichtsreicher
Kandidat könnte der Terminus Netzkunst sein,
dessen sich ja auch dieses Forum bedient. Aber selbst dieser
Begriff ist nicht unproblematisch, da durch die Assoziation
"bildende Kunst" die Textkomponente nach ihrer vielleicht
nicht mehr gerechtfertigten Akzentuierung nun wiederum
ungerechtfertigterweise unterdrückt wird. Der Begriff
Kunst eignet sich nur dann, wenn er durch einen
geschichtlichen Gang zurück vor die Ausdifferenzierung
der Künste wieder jene terminologische
Gemeinschaftlichkeit der Kunstgattungen herstellt, die er
noch in Sulzers "Theorie der Schönen Künste"
(1784) hatte und die die Entdifferenzierung in den digitalen
Medien nun erneut nahelegt. Diese Frage verlangt ebenso eine
gesonderte Diskussion wie die in dem Statement
von Randi Gunzenhäuser anklingende nach dem
Zusammenhang von Text / Kunst und Spiel (zur Bedeutung der
Adventure-Games für Hyperfiction vgl. z.B. Susana
Pajares Toscas Beitrag Playing
the Plot in
"dichtung-digital").
Eine oft gehörte
Kennzeichnung digitaler Literatur ist die vom Verschwinden
des Autors und von der Autorschaft des Lesers. Diese von der
notwendigen Navigationsarbeit des Lesers ausgehende
Übertreibung beruht auf dem Theoriehintergrund der
Gründerjahre digitaler Literatur (George P. Landow,
Nestor des amerikanischen Hyperfiction-Debatte, pointiert
1992 in seinem Hypertext. The Convergence of Contemporary
Critical Theory and Technology: "contemporary theory
proposes and hypertext disposes"). Auer nennt das Konzept
vom Wreader also völlig zu recht Ideologie, so wie
Reinhard Döhl der in seinem Statement
für den Leser die passende Formulierung "gesteuerter
Navigator" findet völlig zu recht darauf
verweist, dass der Autor im Netz keineswegs verschwunden
ist. Er ist, wenn man so will, sogar mächtiger
geworden, insofern er durch das Setzen bzw. Nichtsetzen von
Links nun auch noch die vom Leser realisierten Assoziationen
bzw. Intertextualitäten (zumindest auf der
Oberfläche) regiert.
Ein weiterer Aspekt in
diesem Zusammenhang wird in den Eingangsthesen
dieses Forums angedeutet:
Der
ermächtigte Leser scheint keineswegs willens, die
Arbeit des Autors zu übernehmen.
Diese Beobachtung
korresponsiert mit dem oft beklagten mangelnden Erfolg der
Hyperfiction, der wiederum zum Großteil eben darauf
zurückzuführen ist, dass man einem Autor
misstraut, der kein klar konzipiertes Kommunikationsangebot
macht, sondern dem Leser die Organisation des Ganzen
überlässt. Wenn Ruth Nestvold 1996 noch vermutet:
"Eine Autorin, die die Reaktionen ihrer Leser möglichst
präzise kontrollieren will, wird sich dem Medium
Hypertext nicht zuwenden" (Das Ende des Buches. Hypertext
und seine Auswirkungen auf die Literatur, in: Klepper /
Mayer / Schneck [Hgg.], Hyperkultur. Zur Fiction des
Computerzeitalters, Berlin, New York), so räumt man
inzwischen ein, dass gerade Hypertext einen starken Autor
braucht, der die komplizierteren Strukturen überblickt
und in Voraussicht und Kontrolle der Leserreaktion die
Textteile sinnvoll anzuordnen vermag (ausgenommen die
Mitschreibprojekte, die aber wiederum ein starkes Konzept
bzw. einen starken Projektleiter benötigen).
Abgesehen davon bleibt die
Autorinstanz natürlich intakt bei Werken, die sich v.a.
durch Intermedialität und Inszenierung ausweisen, und
in diesen Fällen gilt zumeist auch weiterhin der
traditionelle Werkbegriff. Eine Veränderung der
Autorrolle liegt allerdings trotzdem vor, und zwar sowohl in
Richtung Kooperation wie in Richtung Wreader. Zur
Kooperation kommt es durch die Intermedialität der
digitalen Medien und dadurch, dass in diesen Medien auf der
Grundebene mit Strom geschrieben wird. Ersteres führt
wegen der notwendigen multimedialen Kompetenz zur
Zusammenarbeit verschiedener Spezialisten (des Wortes, des
Bildes, des Tones usw.). Zweiteres führt zur
Zusammenarbeit zwischen diesen Spezialisten und dem
Programmierer bzw. Data-Designer (der, als Screen-Designer,
auch zur ersten Gruppe gezählt werden kann).
Die diesbezüglichen
Einstellungen liegen naturgemäß weit auseinander.
Während die einen aus gebotenem Pragmatismus
arbeitsteilig vorgehen (beide Preisträger des
Pegasus
98 z.B. sind als
Zwei-Mann-Kooperationen ausgewiesen), haben andere den
Ehrgeiz, die benutzte Sprache in all ihren Facetten selbst
zu beherrschen: so etwa Susanne Berkenheger, die aus der
sicheren Kenntnis von JavaScript heraus ihr Projekt
Hilfe
inszeniert, und so Fevci Konuk, der seine ästhetisch
wie technisch recht avancierten Werke (Digital
Troja,
Brainwash)
völlig allein produziert, auf diese ">Dichte< in
der Arbeit" auch großen Wert legt und Teamworks als
unzulässige Kompromisse ablehnt (im Sinne einer
Modifikation des Wittgensteinschen
Sprechverbots).
Der Fakt, dass alles
Erscheinende in den digitalen Medien seine Basis im
Technischen hat, macht gewissermaßen in einer
Umkehrung des herkömmlichen Wreader-Begriffs (Leser als
Autor) den Autor zum Leser. Espen Aarseth hat auf den
Umstand hingewiesen, dass der Autor digitaler Literatur
zunächst Leser der Programme ist, die er für seine
Zwecke verwendet. Digitale Texte sind somit vertikale
Produkte verschiedener Userebenen mit unterschiedlichen
Nutzungspositionen, sie sind, wie Aarseth
resümiert:
seldom the work of
a single individual and are often comparable to a
rule-based, premodern poetics, where the poet creates
within a framework of clearly definded elements and
constrains laid down by others.
(Cyberspace)
Es gibt also nicht nur die
Autorschaft des Lesers und die des erstarkten Autors,
sondern auch und in erster Linie die des Systementwicklers.
Die Konsequenzen dieser Sachlage verführen zu der
Pointe, dass der alte Streit zwischen Dichter und Ingenieur
zugunsten des letzteren entschieden wurde.
Der Mythos vom aktiven Leser
ist trotzdem ernst zu nehmen. Sieht sich der Leser auch
nicht unbedingt als Autor, so erwartet er doch, durch
ermöglichte oder abgeforderte Inputs ("Clickactivity")
das Gefühl der Beteiligung vermittelt zu bekommen. Ein
ablaufender Film wie Robert Kendalls Fortschreibung der
visuellen Poesie im Reich des Digitalen, Clue,
befremdet in diesem Medium, weil der Leser sich wieder zum
Fernsehzuschauer degradiert sieht. Man will mindestens
selbst das Werk erkunden. Das zugrundeliegende
Bedürfnis des Beteiligtseins führt zur Frage der
ästhetischen Tendenz digitaler Literatur.
Reinhard Döhl erinnert
angesichts vorgebrachter Enttäuschungen über die
Werke digitaler Literatur daran, dass sich das Internet noch
im status nascendi befinde. Wer in Großperspektiven
denkt die dem mit Multilinearität, Kollaboration
und Intermedialität verbundenen Paradigmenwechsel des
ästhetischen Ausdrucks ja durchaus angemessen sind
folgt sicher gern der Beschwichtigung. Allerdings
sollte man nicht den Eindruck erwecken, als habe die Sache
erst gestern das Licht der Welt erblickt. Es gibt inzwischen
eine Tradition, und es gibt sogar schon Abgesänge, und
zwar nicht nur von denen, die noch nie im Internet waren.
Robert Coover, der einst mit seinem euphorischen Essay "The
End of Books" (1992) dem exotischen Thema Hypertext das
Publikum der "New York Times Books Review" verschaffte,
meint nun, Anfang 2000, die große Zeit der
Hyperfiction sei vorbei. In seinem Essay Literary
Hypertext: The Passing of the Golden
Age beklagt er die
Multimedialisierung des Webs als Rückkehr zur
Linearität und zum Film, "that most passive and
imperious of forms", und notiert einen "constant threat of
hypermedia: to suck the substance out of a work of lettered
art, reduce it to surface spectacle."
Andere, wie Ryan und sicher
auch Daiber, lehnen diesen Pessimismus ab und argumentieren
zum einen mit dem Wert der Immersion, zum anderen damit,
dass auch ein unidirektionaler Mediengebrauch keineswegs
Passivität per se bedeutet. Und doch: Die Furcht vor
dem Spektakel ist nicht unbegründet. Sie ist zwar nicht
neu man denke an Postman, man denke an Jochen
Schulte-Sasses Rede von der "Dramaturgie des Spektakels"
angesichts der Verdrängung der Schriftkultur durch die
elektronische Kultur (in: Gumbrecht / Pfeiffer,
Materialität der Kommunikation, 1988) , aber mit
der zunehmenden Leistungsfähigkeit des Netzes und der
heimischen Computer erfährt diese Entwicklung einen
weiteren Schub.
Mit der Durchsetzung von
Flash wird das "Klickibunti", von dem Beat Suter in seinem
Statement
spricht, überdies eine neue Qualität erreichen.
Das ästhetische Ereignis wird sich weiter des Sinns
entledigen bzw. in der Ästhetisierung des Banalen und
des Kommerziellen bestehen. Lumicon
gibt einen Vorgeschmack auf ersteres, die Flash-Site von
Ford
ein Beispiel für letzteres, zu dem Fevci Konuks
künstlerisches Flash-Projekt Brainwash
eine kritische Auseinandersetzung darstellt (vgl. die
Sammlung
von Flash-Ästhetik
als Vorausblick auf das Kommende). Die Auskunft eines
Flash-Projekts,
das Internet sei mehr als eine gewaltige Informationsquelle,
nämlich eine völlig neue Qualität der
Präsentation, zielt auf eben diese sich abzeichnende
Akzentuierung des Äußerlichen. Was zu erwarten
ist, ist eine Ästhetik des Events mit einem doppelten
Akzent auf Animation: Rezipiertes und Rezipient, animierte
Bilder / Worte und animierte Leser.
Animation ist fester
Bestandteil der Philosophie des Events: Das Publikum muss
>angewärmt< und einbezogen werden, es muss das
Gefühl haben, eine Rolle zu spielen. Digitale
Ästhetik unterstützt schon durch das Merkmal der
Interaktivität genau dieses Gefühl des
spürbaren Beteiligtseins. Selbst medienkritische
Projekte wie der Shredder
oder der Discoder
stehen durch ihre Zertrümmerung der Schrift (vgl. dazu
Christiane Heibachs Artikel über Texttransformation
in "dichtung-digital") dem Event verdächtig nahe. Die
Entsemantisierung der Schrift erfolgt hier in kritischer
Absicht, gleichwohl vollzieht sie sich im Modus des
Spektakels. Auch die Technologie des Hypertextes steht ja im
Grunde dem Spektakel nahe, wobei das Klick-Yourself-Modell
oft für den Mangel an tieferer Bedeutung des formalen
Settings entschädigen muss. Die Übertreibung des
Klick-Gefühls findet man im erfolgreichen
Assoziations-Blaster
eine Parodie zwar auf sich selbst, trotzdem aber
funktionstüchtig als weitgehend sinnenthobene
>Association der Beteiligten< (vgl. die
Besprechung
in "dichtung-digital"). Dass das Mitmachen für den
Mangel an Qualität entschädigen kann,
bestätigt Marie-Laure Ryan, wenn sie im Hinblick auf
interaktive Geschichten im Netz schreibt:
From the point of
view of a participant a plot that would not be very
interesting for a pure spectator may become fascinating -
just as playing a tennis game not worthy of televising
may be a richly rewarding experience for the player.
(Interview
in "dichtung-digital").
Tritt so die
vorausgreifende Vermutung das Spielen, das
Mitspielen, das Aktiv-Sein also an die Stelle von
Qualität und Sinn? Kommt digitale Literatur erst in
der Dramaturgie des Spektakel wirklich zu sich selbst?
(Sie basierte ja von Anfang an auf der Verführung des
technischen Effekts). Schulte-Sasse hielt fest: "Die
Dramaturgie des Spektakels benutzt und vertraut kaum noch
der Sprache, um ihre Ziele zu erreichen." Muss man also eine
kritische Ästhetik des digitalen Bildes fordern? Sollte
man eine Phänomenologie des digitalen Kitsches
erarbeiten? Es bleibt die Frage, ob sich das Medium
tatsächlich noch im Geburtsstadium befindet oder ob es
nicht schon bei Begräbnissen angekommen ist. Im Grunde
vollzieht es beides zugleich in einer von keinem anderen
Medium bisher bekannten Geschwindigkeit. Zur Diskussion
stehen Fragen genug: Was wurde auf dieser Reise bereits
verworfen? Was hat warum nicht funktioniert? Was hat
Zukunft? Was, schließlich, soll man wünschen?