Interview mit Beat Suter BS: Ich habe mich
immer schon gerne mit grenzüberschreitenden Kunstwerken
und Sprachexeprimenten beschäftigt und aufmerksam die
Aufweichung und schrittweise Aufhebung der Gattungsgrenzen
in Kunst und Literatur studiert. Viele dieser Experimente
von Dadaismus, Futurismus, Konkreter Poesie, Fluxus, Concept
Art u.a. sind geprägt durch einen spielerischen Umgang
mit den Materialien und der Motivation, neue Konzepte zu
entwickeln, in neue Räume vorzustossen, in denen auch
der Rezipient eine ganz andere Rolle einnimmt. Diese beiden
Aspekte finden sich auch im Zusammenspiel von literarischen
Formen und Computertechnik, ja vielleicht treten sie hier
gar konzentrierter zu Tage, weil die mediale Umgebung ihnen
mehr Spielraum lässt |
BS: Hyperfiktionen
und interaktive Fiktionen unterscheiden sich grundlegend.
Unter Hyperfiktionen verstehe ich in erster Linie Hypertext
Geschichten mit starker Neigung zum Narrativen. Dem Leser
einer solchen Fiktion ist es möglich, sich mit
einfachen Mitteln durch die fragmentarisch angeordneten
Erzählsegmente zu navigieren, indem er entweder
bestimmten Figuren oder unterschiedlichen thematischen
Anknüpfungen mittels der vorhandenen Hyperlinks folgt.
Interaktive Fiktionen hingegen sind in erster Linie
Simulationen und Spiele, die es einem Leser oder Spieler
erlauben, eine immersive Perspektive einzunehmen und
Situationen mehrmals durchzuspielen und den Text jeweils
nach neuen Möglichkeiten bzw. Lösungen zu
durchsuchen. Interaktive Fiktionen, die über ein
Interface mit einem direkten Gegenüber interagieren,
zeigen dies am deutlichsten. Solche interaktiven Spiele und
Simulationen sind denn in der Regel auch als
(exteriorisierte) virtuelle Welten konstruiert - zunehmend
als komplexe 3D-Welten - in welchen sich der Leser
supponiert frei bewegen und die Narration gestalten
kann. Dagegen verlangen die
Segmente und Verknüpfungen von Text-Hyperfiktionen die
Kreation eines imaginären Raumes wie bei einem
Buchroman. Die Aktivität des Lesers gestaltet sich denn
auch nicht gleich: Der Spieler einer Interaktiven Fiktion
kann synchron und aktiv handeln, manchmal ist auch ein
direktes Gegenüber vorhanden, das ebenfalls Aktionen
ausführt, die das Spiel und die Aktionen des Spielers
unmittelbar beeinflussen. Der Leser der Hyperfiktion auf der
andern Seite hat nur die Möglichkeit, asynchron zu
handeln. Seine Interaktion beschränkt sich auf das
Auswählen von Links, von Pfadmöglichkeiten, seine
Methode ist die Entscheidung. Die Interaktionen des Spielers
hingegen erfolgen in einem abgesteckten Regelrahmen und
nehmen den Charakterzug von Spielzügen an. Diese beiden
Phänomene sind für mich gleichermassen
interessant, sie stellen zwei Wege dar, das neue Medium
narrativ zu nutzen und deuten auch zwei mögliche
Entwicklungslinien für die Zukunft an. dd:
Wo würdest du in diesem Zusammenhang Begriffe wie
"Netzliteratur" und "Multimedia" platzieren? BS: Dem Begriff
Netzliteratur ziehe ich den Begriff Hyperfiction vor, weil
er das neue literarische Genre klarer umreisst. Denn als
Netzliteratur wird im Web so ziemlich alles gehandelt, was
literarischen Anspruch hat und auf einer Homepage Platz
findet. Ich schätze bsp. den Versuch von Christian
Köllerer in seinem Aufsatz dd:
Aber auch Köllerers Begriff scheint mir
problematisch, denn die damit bezeichneten Werke brauchen
nur im Falle der Interaktivität wirklich das Netz,
funktionieren ansonsten aber auch offline und könnten
zum Beispiel ebenso gut bzw. genauer ganz allgemein
"digitale Literatur" heißen. BS: Das zeigt mir
zumindest, dass der Begriff "Netzliteratur" sehr verwirrlich
ist bzw. auf verschiedene Arten verstanden werden kann. Mit
"Netz" muss ja nicht das Internet gemeint sein, sondern
irgendein hypertextuelles oder nicht-hypertextuelles
Netzwerk! Worauf stützt sich denn die Annahme, dass nur
sogenannt "interaktive" Werke wirklich adäquat von
Netztechnologien Gebrauch machen? Und welche
"Interaktivität" ist gemeint? Entsprechen die
vorwiegend eingesetzten asynchronen interaktiven Elemente
den formulierten Ansprüchen? Gerade wegen dieser
Verwirrung halte ich Abstand vom Begriff
"Netzliteratur". Da scheint mir "digitale
Literatur" bereits viel neutraler. Allerdings benötigt
auch der relativ offene Begriff "digitale Literatur" eine
allgemein akzeptierte Definition, damit bsp. nicht einfach
digitalisierte "Papierliteratur" dazu gerechnet werden kann.
Ich weiss, dass du
"digitale Literatur" favorisierst und ihr mindestens eines
von drei spezifischen Merkmalen für digitale Medien
zuweist: Interaktivität, Intermedialität und
Inszenierung. Doch sämtliche der drei Begriffe
benötigen wiederum eigene Definitionen und
Erläuterungen, damit sie nicht einfach für
Verwirrung sorgen. Diese Erläuterungen gibst du
selbstverständlich in deinen Aufsätzen, kenne ich
sie aber nicht, so sagen mir die Begriffe
Intermedialität und Inszenierung etwas
anderes. Du fragst auch nach einem
Zuweisungsort für den Begriff "Multimedia". Der
inflationäre Gebrauch des Begriffs Multimedia ist
überdeutliches Zeichen einer Verschiebung vom
Textmedium zu den Multimedia: Der Text ist nicht mehr
unangefochtener Sinnträger, sondern reiht sich
gleichrangig als ein Spielelement neben Ton, Bild und
Animation ein, die alle gleichermassen in binären Daten
ausdrückbar sind. Der Multimedia-Begriff scheint mir
aber im Kontext digitaler Literatur geeigneter zur
Beschreibung der Modalität als zur Bezeichnung eines
Genres. dd:
Du hast eingangs auf die starke Neigung der Hyperfiction zum
Narrativen verwiesen. Der Aspekt der Narration scheint mir
recht gut geeignet, auch angesichts veränderter
Proportionen zwischen Text und Ton, Bild, Animation von
einer Netz- bzw. digitalen Literatur zu sprechen und
diese von der Netz- bzw. digitalen Kunst abzugrenzen,
die ja zumeist auf Installationen und Konzeptionen zielt und
weniger 'Geschichten' erzählt. Hältst du dies
für ein brauchbares Unterscheidungskriterium oder
sollte man eine solche Differenzierung gar nicht mehr
anstreben? BS: Das Narrative
sehe ich mehr als wichtigen Aspekt eines Werks, denn als
Unterscheidungskriterium. Hyperfictions wie "Afternoon, a
story", "Hilfe!"
oder auch "My
Boyfriend came back from the
war" haben eine
starke Neigung zum Narrativen, während das
Konzeptionelle bsp. bei Projekten wie dem "Web
Stalker" oder dem
"Discoder"
klar dominiert. Doch die Grenzen vieler digitaler Projekte
sind sehr fliessend geworden. Auch sogenannte "digitale
Kunst" arbeitet mit narrativen Momenten. Und bei manchen
Werken wie dem "Assoziations-Blaster"
ist es äusserst schwierig abzuschätzen, wie stark
formend das Narrative wirklich noch beteiligt ist. Deshalb
scheint mir das Narrative lediglich zu einer
Grobunterscheidung geeignet, die festzustellen versucht,
welcher Aspekt in einem Werk
überwiegt. dd:
Du sprichst ausdrücklich von der Hyperfiktion als einem
neuen literarischen Genre. Wie grenzt sich dieses Genre von
anderen Genres ab und inwiefern verbleibt es im
literarischen Bereich? BS: Ich spreche von
Hyperfiktion in einem "frühen Entwicklungsstadium zu
einem Genre". Das neue Genre hat also seine endgültige
Ausprägung noch nicht gefunden. Die Grenzen sind noch
nicht abgesteckt. Es besteht genügend Spielraum, auch
verschiedene multimediale Experimente miteinzubeziehen.
Deshalb würde ich auch keine Grenzlinien in Richtung
Kunst, Musik oder künstliche (Programmier)Sprachen
ziehen, sondern den neuen Entwicklungen und Formen
gegenüber offen bleiben. Hyperfictions sollten immer
unter dem Aspekt des Experimentellen betrachtet werden. Man
darf schlichtweg nicht mit dem althergebrachten
Verständnis an die Sache gehen, dass mit den
Hyperfictions perfekte, abgeschlossene und gattungsimmanente
Meisterwerke entstehen, sondern muss immer Offenes,
Unfertiges und Experimentelles erwarten, bzw. man muss eine
Verlagerung der Erwartung einkalkulieren, bsp. vom Autor weg
zum Leser oder Nutzer hin. Es ist schon ein wenig
fragwürdig, bereits heute vom Ende der Hypertext-Aera
zu sprechen, wo lediglich eine Minderheit der Internet-User
mit dem Konzept des Hypertext wirklich vertraut ist, wie das
verschiedene Exponenten der Netzliteraturszene tun. Die
meisten Menschen wissen nicht einmal, was elektronischer
Hypertext ist, geschweige denn haben sie gelernt, damit
umzugehen. Und das gilt nicht nur für die Leser bzw.
Surfer, sondern auch für viele Autoren und Produzenten
von Webseiten. Denn Leser wie Autoren müssen sich
zuerst an die multilinearen bzw. nichtlinearen
Informationsbereiche gewöhnen und anpassen. Und da
hilft nichts anderes als sich Zeit nehmen und Erfahrungen
sammeln im sich Zurechtfinden in grossen, vernetzten
Textmengen , im Schreiben von Hypertexten und allenfalls im
Zusammenstellen von nützlichen Webseiten, um eine
Hypertext-Kompetenz zu erreichen. Davon ist die Mehrheit der
Menschen aber noch weit entfernt. Web-Usability-Spezialist
Jakob Nielsen prognostiziert "das Schreiben von guten
Hypertexten in grösserem Umfang, wenn das Web
vollentwickelt ist und wenn Benutzerbedürfnisse
befriedigt werden, anstatt dass sich Webnutzer von der
Neuartigkeit des Mediums blenden lassen. Vielleicht wird im
Jahre 2005 die Mehrheit der Benutzer genügend Erfahrung
im Umgang mit Hypertext gewonnen haben." dd:
Auf dem Umschlag deines Buches heisst es im Hinblick auf die
experimentelle Verbindung von Literatur und Computertechnik:
"die entstehenden hybridformen sind in erster linie beliebig
manipulierbare binäre daten, die in mehrfacher hinsicht
von transitorischer flüchtigkeit geprägt sind."
Was ist damit gemeint? BS: Das ist eine
knappe Beschreibung des Umstandes, dass allen digitalen
literarischen Versuchen binäre Daten zugrunde liegen,
die in ein Speichermedium eingeschrieben werden, aber
genauso leicht wie sie festgehalten wurden, auch wieder
gelöscht oder beliebig verändert werden
können. Damit erweisen sich die "Datenwerke" als in
einem hohen Masse flexibel, transferier- und manipulierbar.
Dieser Umstand kann mit dem Begriff "transitorische
Flüchtigkeit" umschrieben werden, denn die beliebige
Veränderungsmöglichkeit und Transferierbarkeit der
Daten zeigt, dass sie flüchtigen Charakter haben und
eine Sicherung vorerst weniger nachhaltig ist als die
Sicherung von Texten auf lange haltbaren Medien wie Stein
oder Papier. Für die Literatur ist
das ist eine neue, einmalige Situation. Sie ist sich sonst
gewohnt, Primärtexte in Archiven registriert
vorzufinden oder ausnahmsweise einmal Manuskripten in
Privatbesitz nachzuspüren, aber sie muss sich in der
Regel nicht mit flüchtigen Phänomenen befassen.
Nun aber muss sie Kenntnis davon nehmen, dass bereits
verschwundene Texte meist keine Spuren hinterlassen, weil
ihre elektronischen Daten meist wirkunsgvoll vom Netz
gelöscht wurden. Allenfalls sind einige der Texte auf
lokalen Computern oder einzelnen Datenträgern noch
vorhanden, ohne ausreichende Angaben über den Urheber
oder die Urheberin des Textes dürfte es aber ein Ding
der Unmöglichkeit sein, einen verlorenen Text einige
Jahre später aufzuspüren - und mit jedem Jahr wird
ein solches Unterfangen noch schwieriger werden, weil sich
Hardware und Software ständig wandeln und die
Lesbarkeit eines alten Dateiformats nicht gewährleisten
können. Da scheint es selbst ein
Archäologe einfacher zu haben, der sich wenigstens an
einzelnen materiellen Überresten und Spuren orientieren
kann. Ein Daten-Archäologe der Zukunft nämlich
müsste wohl immer auch die entsprechende
Datenlesemaschine und die entsprechende Datenlese-Software
ausgraben oder mit Hilfsmitteln rekonstruieren können,
um einen Datenfund auch entziffern zu
können. dd:
So erweist sich das Medium der Übertreibung des
Speicherns, in dem man jeden banalen Gesprächsfetzen
festhalten kann, letztlich als das unzuverlässigste
Archiv aller Zeiten. Du sprichst passend von "transitorische
Flüchtigkeit", und du benutzt in deinem Buch im
Hinblick auf Hyperfiktion noch mehr Worte mit "Trans-":
Transfugalität und Transversalität. Wofür
stehen diese Begriffe? BS: Die beiden
Begriffe dienen mir dazu, die Grundlagen des neuen Kultur-
und Literaturmilieus der Hyperfictions zu umschreiben. Den
Begriff "Transversalität" verwendet Wolfgang Welsch in
seiner Philosophie der zeitgenössischen Vernunftkritik
zur Bezeichnung allgemeiner Denk- und Gestaltungsformen der
Gegenwartsgesellschaft. Schreiben und Denken im Netz, bzw.
im World Wide Web kann man als praktische Vollzüge
transversaler Vernunft sehen, die im Kontext von
Internetliteratur strukturbildenden Charakter haben. Denn
Schreiben und Denken im Netz sind nicht zu trennen von der
kreativen und ästhetischen Gestaltung einzelner
Projekte. Konkret heisst Schreiben und
Denken im Netz für einen Autor: kreatives Installieren
von Hyperlinks, ästhetisches Gestalten des Designs von
Webseiten, geschickter und einfallsreicher Umgang mit
Bildbearbeitungsprogrammen wie Photoshop und
multifunktionalen Editoren wie Go Live oder Dreamweaver
beziehungsweise geschicktes Programmieren mit HTML, DHTML,
XML, JavaScript, Applets, Flash, ASP, SQL etc. Der
Künstler hat also keine Wahl, er muss sein Spektrum
erweitern und sich gewisse Progammierer- und
Gestalterqualitäten erarbeiten. Und diese praktischen,
handwerklichen Vollzüge reissen den Schreibenden aus
der Position eines reinen Beobachters heraus und binden ihn
in konkrete Handlungszusammenhänge
ein. Allgemein gesehen und
vielleicht etwas überspitzt formuliert wird der
Hyperfiction-Autor zu einem universalen Künstler:
Schriftsteller, Programmierer und Gestalter in einem, der
nicht nur das theoretische Instrumentarium der neuesten
Kommunikations- und Medientheorien beherrscht, sondern stark
praxisorientiert ist und sowohl computertechnologische, als
auch soziale und künstlerisch ästhetische
Kompetenz verknüpft. Der Begriff der
"Transfugalität" hingegen umschreibt den zuvor
angesprochenen Tatbestand der transitorischen
Flüchtigkeit, der die neue Literaturform eben in
mehrfacher Hinsicht bestimmt. Transitorische
Flüchtigkeit heisst: Jeder Autor kann sein eigener
Herausgeber sein; beschreibt die relative Flüchtigkeit
des materialen Datenträgers und der binären
Datenspeicherung auf unterschiedlichsten, schnell
veraltenden Datenträgern; zeigt den Umstand an, dass
ein Datenwerk lediglich temporäre Bildschirmgestalt
annimmt; meint die unbegrenzte Eingriffsmöglichkeit
über die Funktionen "Speichern", "Löschen" und
"Verändern"; und beschreibt die beliebige
Transportierbarkeit in Teilmengen und auf
unterschiedlichsten Wegen über elektronische
Netzwerke. |